Arbeitsmigration
Wie beeinflusst die Personenfreizügigkeit den Arbeitsmarkt?
Warum Löhne und Beschäftigung der einheimischen Arbeitskräfte trotz Personenfreizügigkeit nicht sanken.
13. Dezember 2024, Dr. Michael Siegenthaler
Eine der wichtigsten Fragen zur Personenfreizügigkeit ist, wie sie den Arbeitsmarkt beeinflusst. Verschiedene Studien zeigen, dass Schweizer Unternehmen, die auf Fachkräfte angewiesen sind, vom erleichterten Zugang zu Arbeitskräften aus der EU profitieren. Sie schufen zusätzliche Arbeitsplätze, sodass die Grenzöffnung nicht zulasten der einheimischen Arbeitskräfte ging.
Grenzgänger spielen eine immer grössere Rolle auf dem Schweizer Arbeitsmarkt: Mitte 2024 arbeiteten fast 400’000 der 5,5 Millionen Beschäftigten der Schweiz als Grenzgänger – dreimal mehr als im Jahr 2000. Ein Grund für diesen Anstieg ist die Personenfreizügigkeit, die den Schweizer Arbeitsmarkt seit 2002 vollständig für Grenzgänger öffnete. Seitdem ist die Zahl der Grenzgänger in den Grenzregionen deutlich gestiegen. In Unternehmen innerhalb von zehn Autominuten zur Grenze waren bereits 2010 etwa 30 Prozent der Beschäftigten Grenzgänger. In weiter entfernten Regionen blieb ihr Anteil hingegen auch nach 2002 gering.
«Die Studien finden keine Hinweise auf systematische Verdrängungseffekte. »
Viele Studien nutzen diese Unterschiede und analysieren die Situation einheimischer Arbeitskräfte in den Grenzregionen im Vergleich zum Rest der Schweiz, um herauszufinden, wie sich die Personenfreizügigkeit auf Firmen und Beschäftigte ausgewirkt hat. Der Vergleich dient dabei als eine Art «natürliches Experiment», mit dem man die Effekte der Arbeitsmarktöffnung auf die einheimische Wirtschaft besser abschätzen kann.
Kaum Anzeichen für Verdrängungseffekte trotz hoher Zuwanderung
Ein zentraler Punkt der Forschung ist: Firmen in Grenznähe stellten nach der Öffnung des Arbeitsmarkts nicht nur mehr Grenzgänger ein, sondern insgesamt mehr ausländische Fachkräfte als Unternehmen weiter weg von der Grenze. Diese
EU-Ausländer kamen überwiegend in hochqualifizierten Berufen unter, und zwei Drittel von ihnen hatten einen Hochschulabschluss. Aber wie wirkt sich dieser Zustrom auf die einheimischen Arbeitskräfte aus? Die Studien finden keine
Hinweise auf systematische Verdrängungseffekte.
Löhne und Beschäftigungszahlen der einheimischen Beschäftigten entwickelten sich in Grenzregionen und weiter entfernten Gegenden vergleichbar. Tatsächlich stiegen die Löhne hochqualifizierter Einheimischer in Grenznähe sogar stärker als weiter weg von der Grenze – und das trotz des erhöhten Wettbewerbs mit hochqualifizierten Grenzgängern.
«Es wurden dank Personenfreizügigkeit auch mehr Unternehmen gegründet, und einige Betriebe wurden durch die Personenfreizügigkeit produktiver und innovativer.»
Dr. Michael Siegenthaler
Personenfreizügigkeit führte zu mehr Arbeitsplätzen
Wie ist das möglich? Die kurze Antwort: Weil Firmen durch die Grenzöffnung zusätzliche Stellen schaffen konnten, wodurch einheimische Fachkräfte neue Beschäftigungs- und Aufstiegschancen bekamen. Die Öffnung des Arbeitsmarkts machte es den Unternehmen messbar leichter, passendes Personal zu finden, und der Fachkräftemangel reduzierte sich. Die Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten für qualifizierte Mitarbeiter sanken. Es wurden dank Personenfreizügigkeit auch mehr Unternehmen gegründet, und einige Betriebe wurden durch die Personenfreizügigkeit produktiver und innovativer. Die neuen Arbeitsplätze entstanden besonders in der Hightech-Industrie und in wissensintensiven Dienstleistungsbranchen. Vor allem jene Unternehmen, die in den 1990er-Jahren über Fachkräftemangel geklagt hatten, profitierten von der Öffnung.
Firmen im Ausland spürten Abwanderung
Was passierte auf der anderen Seite der Grenze? Auch das wurde untersucht. Die Studien deuten darauf hin, dass die positiven Effekte der Grenzöffnung für die Schweiz zumindest teilweise zulasten einiger Firmen im grenznahen Ausland gingen. Zwar verbesserte sich die Einkommens- und Beschäftigungssituation für Arbeitnehmende, was besonders dem lokalen Dienstleistungssektor half. Doch Unternehmen, die auf qualifizierte Fachkräfte angewiesen sind – wie etwa in der Hightech-Industrie –, spürten die Abwanderung ihrer Spezialisten. Die Folge: Ihr Stellen- und Produktivitätswachstum war geringer. In einigen süddeutschen Kliniken litt sogar die Behandlungsqualität messbar. Auch das zeigt, wie wichtig Fachkräfte für eine wissensbasierte Wirtschaft sind.