Europapolitik

Bilaterale – Ein massgeschneiderter Weg für die Schweiz

Eine Zusammenfassung des EcoOst-Vademecums zu den bilateralen Beziehungen mit der EU

18. August 2022

Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten der Bilateralen I steht die Schweiz erneut an einem Wendepunkt in der Europapolitik. Seit dem Verhandlungsabbruch beim institutionellen Abkommen ist unklar, wie es in den bilateralen Beziehungen zur EU weitergehen soll. Für die beiden IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau bleibt dabei der bisherige bilaterale Weg die beste Alternative.

EcoOst-Vademecum zu den bilateralen Beziehungen

Die EcoOst-Publikation Wie weiter in der Europapolitik? Handlungsbedarf und Alternativen gibt einen Überblick über die europapolitischen Optionen der Schweiz und leitet die gemeinsame Position der IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau her. Das Vademecum soll den Mitgliedern und einer interessierten Öffentlichkeit als Nachschlagewerk in diesem komplexen Dossier dienen und sie zu einer detaillierten Befassung mit der europapolitischen Zukunft der Schweiz einladen.

Vor rund 15 Monaten wurden die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen (InstA) abgebrochen – einseitig, vom Schweizer Bundesrat. Inzwischen führen Bern und Brüssel wieder Gespräche über die Zukunft des bilateralen Wegs. Bereits die ersten Sondierungsgespräche deuten an: Die vom Bundesrat ins Feld geführten Gründe für den Abbruch dominieren die Debatte. Die Stabilisierung der Beziehungen mit der EU kreist um die Streitbeilegung, die Unionsbürgerrichtlinie und den Lohnschutz.

Negative Folgen für Ostschweizer Wirtschaft nehmen zu

Durch Abwarten wird die sektoriell nahezu gleichberechtigte Binnenmarktteilnahme von zusehends mehr Branchen der Schweizer Wirtschaft der Vergangenheit angehören, auf absehbare Zeit. Diese Teilnahme ist für die Ostschweizer Wirtschaft zentral. Zwei Drittel der Exporte fliessen in die EU. Gleichzeitig macht die EU auch in anderen Dossiers deutlich, dass die Schweiz Wohlwollen verloren hat, mitunter bei der ausbleibenden Assoziierung zum Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe. Verhandlungen zu neuen Abkommen im Interesse der Schweiz, etwa beim Strommarkt, sind blockiert.

Quo vadis, Schweiz?

Heute, unter den Bilateralen I und II sowie ergänzenden Verträgen, nimmt die Schweiz sektoriell am europäischen Binnenmarkt teil. Über diese Teilnahme wird der Ostschweizer Wirtschaft in vielen Bereichen ein präferenzieller Zugang, teilweise auch eine nahezu gleichberechtigte Stellung im europäischen Binnenmarkt ermöglicht. Eine einzigartige Position: Die Schweiz entscheidet, in welchen Bereichen sie teilnehmen will und in welchen nicht.

Dieser Weg ist nicht alternativlos. Auch in den Beziehungen zu Europa hat die Schweiz Optionen. Vom Freihandelsabkommen bis zum EU-Beitritt finden in der öffentlichen Debatte erneut zahlreiche europapolitische Alternativen Beachtung. Einzig der aktuelle Schwebezustand, das lässt sich wohl unkontrovers feststellen, ist keine tragfähige Lösung. Eher früher als später muss sich die Schweiz deshalb entscheiden, ob sie den bilateralen Weg weiterführen, sich wie Grossbritannien aus dem europäischen Binnenmarkt verabschieden oder gar einen Integrationsschritt nach vorne machen will.

Den bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln

Unter dem Beizug von externen Fachexperten haben die Vorstände der Industrie- und Handelskammern St.Gallen-Appenzell und Thurgau diese Diskussion über die Zukunft der bilateralen Beziehungen in den vergangenen Monaten erneut geführt. Sie sind dabei zur Einsicht gelangt, dass der bilaterale Weg das bevorzugte Modell zur Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt ist. Im Grundsatz begrüssen die IHK institutionelle Ansätze, welche dessen Stabilisierung und Weiterentwicklung zeitnah gewährleisten können.

Der Rückzug auf ein Freihandelsabkommen ist dagegen keine ausreichende Basis für die wirtschaftlichen Beziehungen zur EU. Ein solcher Ansatz verkennt die intensive Verflechtung der Ostschweizer Wirtschaft mit der EU und insbesondere den Nachbarregionen. Auf der anderen Seite ist ein EU-Beitritt für die IHK keine Option. In Bezug auf die wirtschaftliche Dimension der EU erscheinen andere Assoziierungsmodelle attraktiver: Eine Vollmitgliedschaft lässt bedeutend weniger Spielraum für die Rücksichtnahme auf institutionelle Besonderheiten der Schweiz – direkte Demokratie, Föderalismus – sowie für die formale Autonomie gewisser Bereiche der Wirtschaftspolitik, vorab die Aussenhandels- und Geldpolitik.