Wachstum

Drei Denker, drei Irrtümer – und was wir daraus lernen

Auf die Haltung kommt es an

7. März 2025, Fabian Pernstich

Adam Smith, Karl Marx und Joseph Schumpeter gehören zu den einflussreichsten Wirtschaftsdenkern der Geschichte. Ihre Theorien haben unser Verständnis von Markt, Kapitalismus und wirtschaftlichem Wandel geprägt. Doch auch sie irrten in entscheidenden Aspekten. Was können wir für unsere Zukunft aus ihren Einsichten und Fehlannahmen lernen?

Die unsichtbare Hand und ihr blinder Fleck

Schottland im 18. Jahrhundert: eine Zeit des aufkommenden Kapitalismus und der frühen Industriellen Revolution. Grossbritannien entwickelte sich zu einer Handels- und Industriemacht. Der Feudalismus mit seinen starren Hierarchien sorgte dafür, dass die meisten Menschen keinen wirtschaftlichen Aufstieg schaffen konnten, weil sie an ihren Stand gebunden waren. Gleichzeitig schränkte der Merkantilismus den Handel durch Zölle und staatliche Eingriffe stark ein, was den wirtschaftlichen Fortschritt hemmte – genau das überzeugte Adam Smith davon, dass freier Handel und weniger staatliche Kontrolle den Wohlstand für alle steigern könnten. Durch Angebot und Nachfrage, angetrieben von Eigeninteressen, entstehe Wohlstand für alle. Seine Theorie der «unsichtbaren Hand» beschreibt ein System, in dem freier Wettbewerb für Effizienz und Fortschritt sorgt. Viele seiner Theorien sind bis heute die Basis unseres Verständnisses einer Marktwirtschaft.

Wo er irrte: Smith unterschätzte, mit welcher Wucht die Industrielle Revolution die Welt verändern würde. Er zeichnete das Bild einer Gesellschaft, in der der Wohlstand zunimmt und breiter verteilt wird, ihre grundlegende Struktur aber unverändert bleibt. Vor Smiths Lebenszeit hatte sich die Gesellschaftsordnung über Jahrhunderte hinweg kaum verändert. Mit der Industriellen Revolution setzte ein nie dagewesener Wandel der Lebensrealitäten ein.

Ewiges Warten auf den Untergang

Smiths Idee des Freihandels schien sich jedoch durchzusetzen. Dank der Industrialisierung wuchs die Wirtschaft in einem Tempo, mit dem der gesellschaftliche Wandel nicht mithalten konnte. Rund 100 Jahre nach Smith, auf dem Höhepunkt der Industrialisierung, öffneten sich tiefe soziale und wirtschaftliche Gräben. Es entstanden Fabriken, die Städte wuchsen rasant, die Arbeits- und Lebensbedingungen waren schlecht. Hier kommt Karl Marx ins Spiel: Seiner Ansicht nach beruhte die Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten. Der systembedingte Profitdrang der Kapitalisten führe nicht nur dazu, dass die Arbeiter immer mehr verarmten, sondern auch, dass sich das Kapital auf immer weniger Unternehmen konzentriere. Aufgrund der Verarmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung produzieren die wenigen, noch bestehenden Unternehmen zu viele Produkte ohne zahlungsfähige Abnehmende. Das System bricht in sich zusammen, die verelendete Arbeiterklasse übernimmt das Zepter – so Marx’ Erwartung.

Wo er irrte: Auf diese «Revolution» warten viele Marxisten noch heute. Warum? Die Prognose erwies sich als zu starr. Sowohl die Gesellschaft als auch der Kapitalismus waren wandlungsfähiger als Marx glaubte. Die Gesellschaft emanzipierte sich zusehends, eine wohlhabende Mittelschicht wuchs heran. Liberalismus, Demokratie und Menschenrechte entwickelten sich, der Kapitalismus wurde in Europa Ausdruck menschlicher Freiheit und des allgemeinen Wohlstands.

Der Kapitalismus schlummert ein

Die prognostizierte Verelendung blieb also aus. Tatsächlich waren die Jahre nach Marx’ Lebzeit geprägt von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung und liberalem Unternehmertum. Neue Entdeckungen wie die industrielle Nutzung von Elektrizität revolutionierten die Wirtschaft und der Welthandel intensivierte sich.

Der Österreicher Joseph Schumpeter sah die treibende Kraft des Wirtschaftswachstums in Unternehmerinnen und Unternehmer und ihren Innovationen. «Der Unternehmer» ist nach Schumpeters Auffassung kein gewöhnlicher Manager oder Verwalter, sondern ein Schöpfer neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten. Der Prozess der Erneuerung ist mit Risiko und Widerstand verbunden. Der Schumpeter’sche Unternehmer bekämpft bestehende Strukturen und damit führende Unternehmen so lange, bis er diese durch Innovation überflüssig gemacht hat. Sobald er sich aber durchgesetzt hat, wird er selbst zum «Verwalter», der seine Position halten möchte.

Schumpeter erwartete, dass dieser Kreislauf nicht ewig weitergehen konnte. Er vermutete, dass immer grösser werdende Unternehmen ihre Position immer öfter erfolgreich halten können – aller radikalen Neuerungen kleiner Neo-Konkurrenten zum Trotz. Zunehmende Bürokratie würde den unternehmerischen Geist ersticken und die wirtschaftliche Dynamik bremsen.

«So werde die freie Marktwirtschaft nicht durch Revolution, sondern durch ihre eigene Wohlstandsentwicklung allmählich eingeschläfert und schliesslich vom Sozialismus abgelöst.»

Gleichzeitig würde der Kapitalismus für Wohlstand und Bildung sorgen. Doch gerade die Bildungsschicht – also Akademiker, Journalisten, Schriftsteller und Künstler – würden dazu neigen, die negativen Seiten des Kapitalismus zu betonen: Durch den Erneuerungsprozess gibt es auch Verlierer auf dem Markt – ungerecht in den Augen mancher. Schumpeter vermutete, dass mit steigendem Bildungsniveau und wachsendem Wohlstand auch die Rufe nach staatlicher Regulierung lauter werden. So werde die freie Marktwirtschaft nicht durch Revolution, sondern durch ihre eigene Wohlstandsentwicklung allmählich eingeschläfert und schliesslich vom Sozialismus abgelöst.

Wo er irrte: Bisher wurde die freie Marktwirtschaft nicht abgeschafft, weder von Grosskonzernen noch von Intellektuellen. Innovationen sind – anders als von Schumpeter beschrieben – nicht nur auf kleine risikofreudige Neuunternehmer zurückzuführen. Es sind auch Grossunternehmen, die mit beachtlichem Aufwand in Forschung und Entwicklung Innovationen schaffen. Zudem ist vielen Intellektuellen bewusst, welchen Nutzen eine florierende Wirtschaft mit sich bringt.

Auf die Haltung kommt es an

Was die Denker der Wirtschaft zu Lebzeiten nicht gänzlich zu prognostizieren vermochten, wird in einem Artikel erst recht nicht gelingen. Die Zukunft bleibt ein Rätsel. Die Gedanken von Smith, Marx und Schumpeter geben uns aber wertvolle Hinweise, wie wir ihr begegnen sollten:

Die Wirtschaft lebt von Überraschungen. Wir dürfen die Zukunft nicht als gradlinige Fortsetzung der Gegenwart verstehen. Smith hatte dies versucht, Marx auch. Beide sind gescheitert. Smith übersah das Innovationspotenzial der Wirtschaft und verkannte, dass das Wachstum nicht nur räumlich gedacht werden kann. Wachstum bedeutet nicht nur «mehr», sondern auch «besser». Marx missinterpretierte die Veränderung der Gesellschaft, welche durch Wirtschaftswachstum angestossen wird. Durch das Wirtschaftswachstum entstanden ein höheres Bildungsniveau, wissenschaftlicher Fortschritt, eine wachsende Mittelschicht und damit letztlich auch die Grundlagen für unsere politische Mitbestimmung. Mit dem Fortschritt ändern sich auch Bedürfnisse, Innovationen werden erforderlich. Diese Komplexität ist weder gänzlich begreif- noch steuerbar.

Die Wirtschaft lebt von Freiheit und Vertrauen. Wer glaubt, vermeintliche Fehlentwicklungen des Wachstums mit einschneidenden Massnahmen lenken zu können, zieht der Wirtschaft langfristig den Boden unter den Füssen weg. Der Staat muss dafür sorgen, dass demokratisch legitimiertes Recht durchgesetzt wird, dass die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft stimmen. Verfälscht der Staat aber durch übermässige Regulierung die Marktsignale, beraubt er die Unternehmerinnen und Unternehmer des nötigen Freiraums. Schumpeters prognostizierte Gefahr einer überbordenden Regulierung darf uns hier eine Warnung sein.

Die Wirtschaft sind wir alle. Soziale Gerechtigkeit ist ein relevantes Thema. Doch eine rein auf Verteilungskämpfe reduzierte Sicht auf die Wirtschaft greift zu kurz – denn Wirtschaftswachstum ist kein Nullsummenspiel. Einfache Arbeiter gründen heute eigene Unternehmen oder investieren in Aktien. Innovationen entstehen oftmals durch die tägliche Arbeit von Mitarbeitenden. In demokratischen Staaten trägt die Wahlbevölkerung in der Regel dafür Sorge, dass die Rahmenbedingungen für gesundes Wirtschaften gewährleistet sind. So komplex die Wirtschaftsrealität unserer Zeit auch sein mag – im öffentlichen Diskurs geht oftmals das Entscheidende unter: Die Wirtschaft sind wir alle.

Die historischen Fakten wurden entnommen aus Heilbroner, R. (2014). Die Denker der Wirtschaft: Ideen und Konzepte der großen Wirtschaftsphilosophen (2. Aufl.). FinanzBuch Verlag.

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