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Die Aussensicht: Alles nur ein Missverständnis?

Schweiz – EU Die Aussensicht: Alles nur ein Missverständnis?

Dr. Georges Baur, Forschungsbeauftragter Recht am Liechtenstein-Institut

Die Schweiz und die EU befinden sich heute in einer Sackgasse, wenn es um die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen geht. Ein Grund dafür ist, dass die Schweiz im letzten Jahrzehnt vor allem mit sich selbst diskutiert hat. Diese innenpolitische Diskussion basiert zudem auf einigen Missverständnissen.

Am 26. Mai 2021 hat der Bundesrat entschieden, das Institutionelle Abkommen (InstA) nicht zu unterzeichnen. Was das weitere Vorgehen anbelangt, sieht die EU den Ball grundsätzlich im Schweizer Spielfeld. Allerdings wird sich die EU natürlich auch überlegen (müssen), wie sie sich unter den gegebenen Umständen der Schweiz gegenüber verhalten will. Schon seit längerer Zeit hat sie erklärt, dass die bilateralen Abkommen nur noch nachgeführt werden sollen, wo dies im Interesse der EU liegt. Dies wird sicherlich nicht zu einer raschen Kündigung der bilateralen Abkommen führen, aber mittelfristig ist eine «Erosion» der Teilnahme der Schweiz am europäischen Binnenmarkt zu erwarten bzw. schon im Gange: Die bilateralen Abkommen verlieren an Aktualität und die Homogenität, also gleiche Regeln im gleichen Raum, geht verloren. Die Verhandlungspartner befinden sich heute in einer Sackgasse. Grund dafür ist sicher, dass die Schweiz im vergangenen Jahrzehnt die ­bilateralen Beziehungen und die Vor- und Nachteile eines institutionellen Abkommens in erster Linie mit sich selbst diskutiert hat. Die Bedürfnisse und Rahmenbedingungen der EU wurden dabei weitgehend ausser Acht gelassen. Schaut man sich dann die Verhandlungssituation auch von der Warte der EU aus an, so fällt auf, dass – zwar nicht nur, aber vorwiegend – die schweizerische Diskussion auf einigen Missverständnissen beruht.

Erstes Missverständnis: Alles ist verhandelbar

In ihrer Diskussion untereinander haben die Schweizer Interessenvertreter kaum je thematisiert, wie denn die Verhandlungsposition der EU aussieht, was deren «juristische Zwangsjacken» bzw. politische rote Linien sind. Im besten Fall wurde davon ausgegangen, dass für die EU alles verhandelbar sei, wenn sie nur wolle. Dies ist aber keineswegs der Fall.

Zunächst versteht sich die EU als Rechtsgemeinschaft: Recht braucht Institutionen, Recht schafft Sicherheit und letztlich eben etablierte Prinzipien, welche für alle in gleichem Masse gelten. Die EU kann nur im Rahmen des europäischen Rechts – d.h. der europäischen Verträge und des darauf aufbauenden «acquis communautaire»

 – handeln. Dies gilt noch stärker für die EU-Kommission als «die Hüterin der Verträge», ausser in Bereichen, wo ihr ein politisches Ermessen ausdrücklich zugestanden wurde, beispielsweise bei Äquivalenzentscheidungen. Die Kompetenz, politisch zu handeln, steht ansonsten nur den Mitgliedstaaten zu. Daher ist das Handeln der EU-Kommission und des Auswärtigen Dienstes eng an rechtliche Vorgaben gebunden.

In der Schweiz gilt demgegenüber der Primat des Politischen. Dies gilt im Allgemeinen auch für das Verständnis von Aussenpolitik und Aussenwirtschaft. Demgemäss ist grundsätzlich alles verhandelbar, sofern es nicht gegen Grundsätze der Bundesverfassung verstösst. Sodann trennt die EU scharf zwischen dem Zugang zu ihrem Markt und der Teilnahme am Binnenmarkt (Marktintegration). Ersteres geschieht in der Regel zwischen gleichberechtigten Partnern («auf Augenhöhe»). Dabei wird vereinbart, welchen Zugang man dem Partner gewährt und zu welchen Bedingungen. Es geht zumeist darum, Freihandel zu vereinbaren, und zwar nach den von der WTO vorgegebenen Standards und in einem gegenüber anderen Staaten privilegierenden Mass («WTO+»). Es geht um Zugang zum jeweils anderen Markt, ohne die beiden Märkte zu fusionieren und gemeinsame Regeln für deren Funktionieren aufzustellen. Zwischen den Parteien gibt es normalerweise Streitbeilegungsverfahren, wobei dies politisch entscheidende Gremien, Schiedsgerichte oder beides sein können. Natürliche und juristische Personen können sich nur im Heimatstaat juristisch wehren.

Der zweite Fall liegt anders: Hier gewährt die EU einem Nichtmitglied die – ggf. teilweise, wie im Fall der Schweiz – Teilnahme an ihrem Binnenmarkt. Dabei gehen die nationalen Märkte der teilnehmenden Parteien weitgehend in einem gemeinsamen Markt auf; in diesem Fall im Binnenmarkt der EU, welche diesen regelt und überwacht. Der Binnenmarkt funktioniert nach gemeinsamen Regeln und untersteht gemeinsamen Institutionen, welche diese Regeln durchsetzen. Dabei können sich natürliche und juristische Personen auch bei diesen etwa gegen Diskriminierung oder Wettbewerbsschranken im Heimatstaat wehren.

Einige bilaterale Abkommen gewähren der Schweiz Teilnahme am EU-Binnenmarkt, sind also Binnenmarktabkommen, andere nicht. Das Freizügigkeitsabkommen oder das Luftverkehrsabkommen sind Beispiele für Binnenmarktabkommen. Dabei spielt eine allenfalls von der Schweiz gewählte Bezeichnung («Marktzugangsabkommen») keine Rolle.

Zweites Missverständnis: Bilaterale Abkommen als permanenter Königsweg

Die EU sah die bilateralen Abkommen immer als Provisorium, bis die Schweiz entweder den EWR dem Volk nochmals vorlegen oder der EU beitreten würde. Dabei verliess sich die verhandlungsführende EU-Kommission auf die öffentlichen Verlautbarungen des Bundesrats. Dieser hatte im Vorfeld der EWR-Abstimmung im Mai 1992 in Brüssel ein Beitrittsgesuch hinterlegt und damit den EWR als vorübergehende Etappe qualifiziert. 2006 bestätigte der Bundesrat den bilateralen Weg und schloss somit einen EWR-Beitritt implizit aus. Des Weiteren stufte er einen EU-Beitritt zur längerfristigen Option zurück. 2016 forderte das Parlament den Bundesrat auf, das Beitrittsgesuch zurückzuziehen. Darauf teilte der Bundesrat der EU mit, das Gesuch «als zurückgezogen zu betrachten». Im Gegensatz zu Verlautbarungen in der Schweizer Presse, dass dieser Entscheid ohne Folgen bleibe, hatten sich allerspätestens damit für die EU die Voraus­setzungen, unter denen sie die bilateralen Abkommen geschlossen hatte, grundlegend geändert. Schon ab 2006 strebte sie mit der Schweiz einen institutionellen Rahmen für die Bereiche an, wo die Schweiz am Binnenmarkt teilnahm.

Georges Baur war als Referent am letztjährigen Business Outlook «Schweiz – EU: Die Aussensicht» zu Gast. Ein Jahr später legt er im Rahmen dieser IHKfacts-Ausgabe erneut seine Gedanken zum Stand der Beziehungen Schweiz – EU dar.

Drittes Missverständnis: Die EU hat keine Zugeständnisse gemacht

Schweizer Akteure haben immer wieder behauptet, die EU sei stur und habe keinerlei Zugeständnisse gemacht. Dies bezog sich hauptsächlich auf die drei sachlichen Hauptthemen «Unionsbürgerrichtlinie» (UBRL), «flankierende Massnahmen» (FlaM) und staatliche Beihilfen, teilweise auch auf die «dynamische Rechtsübernahme» sowie die Streitbeilegung und den EuGH als letzte Instanz für die Auslegung von EU-Recht.

Aus dem vorher Gesagten und ihrem Selbstverständnis als Rechtsgemeinschaft ergibt sich, dass die EU und die für sie und ihre Mitgliedstaaten handelnde EU-Kommission an gewisse rechtliche Bedingungen gebunden sind, die sie nicht einfach beiseiteschieben können.

So wie die EU gegen innen dafür sorgen muss, dass Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten gleich behandelt werden, muss sie gegen aussen sicherstellen, dass einerseits Nichtmitgliedstaaten nicht bessergestellt werden als Mitgliedstaaten und andererseits auch Nichtmitgliedstaaten untereinander nicht unterschiedlich behandelt werden, soweit die Abkommensbedingungen gleich oder zumindest vergleichbar sind. Erstens geht die Integration der EU und ihrer Mitgliedstaaten einer allfälligen Integration (Assoziation) von Nichtmitgliedstaaten vor. Zweitens muss die EU bzw. müssen die für sie handelnden In­stitutionen auch die Autonomie ihres Rechts und ihrer Beschlussfassung sicherstellen, d.h., Nichtmitgliedstaaten dürfen im Prinzip keinen Einfluss darauf haben. Drittens muss ein Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten bestehen. Schliesslich muss die EU ihren Binnenmarkt schützen. Dies tut sie, indem sie seine Integrität verteidigt, indem sie z.B. auf der Übernahme aller vier Freiheiten¹ besteht.

Aus all dem ergeben sich wiederum fünf Elemente, welche üblicherweise in einem umfassenden Abkommen mit einem oder mehreren Nichtmitgliedstaaten enthalten sein müssen: (1) die dynamische Rechtsübernahme, (2) die homogene Rechtsauslegung, (3) eine Aufsichtsbehörde, (4) eine Gerichtsinstanz (für Vorlage- und Verletzungsverfahren) sowie (5) eine Regelung der Streitbeilegung.

Von diesen Grundsätzen ist die EU in erheblichem Masse abgewichen, um den Bedürfnissen der Schweiz entgegenzukommen: Im Gegensatz zu dem ansonsten von ihr konsequent vertretenen Prinzip verzichtete die EU gegenüber der Schweiz zunächst darauf, in der Anwendung des InstA auf alle vier Freiheiten zu bestehen. Sodann hat die EU im InstA-Entwurf auf die Aufsichtsbehörde samt Gerichtsinstanz verzichtet. Schliesslich hat sie in den erwähnten drei umstrittenen Sachthemen Zugeständnisse gemacht, die im Verhältnis zu ihren eigenen Mitgliedstaaten durchaus an die Grenze dessen gehen, was diese akzeptieren konnten. Insbesondere wurden die FlaM nicht grundsätzlich infrage gestellt, was sie auch hätte tun können.

Abkommensoptionen

Seit dem Scheitern der InstA-Verhandlungen werden wieder einmal alle möglichen Optionen als Ersatz genannt: vom EU-Beitritt bis zum Status quo und in Anlehnung an das Trade and Cooperation Agreement (TCA) zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auch ein erneuertes Freihandelsabkommen. Die Diskussion in der Schweiz ist weitgehend bekannt und braucht hier nicht erläutert zu werden.

Zur Sicht der EU: Ein EU-Beitritt der Schweiz wäre natürlich – aus verschiedenen Gründen – hochwillkommen. Ebenso ein EWR-Beitritt. Diesen könnte die Schweiz jederzeit beantragen. Allerdings hätten bei Letzterem auch die anderen EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen noch ein Wörtchen mitzu­reden. Und deren Interesse besteht in erster Linie darin, das Funktionieren des EWR zu sichern. Für das bereits verhandelte bzw. ein neues institutionelles Abkommen steht laut EU die Tür weiterhin offen. Allerdings ist – wie vorhin erläutert – nicht mit einem Aufweichen der grundsätzlichen Rechtspositionen der EU zu rechnen. Der Status quo, also die bisherigen bilateralen Abkommen ohne in­stitutionellen Rahmen weiterzuführen, ist für die EU keine Option. Das Freihandelsabkommen zu erweitern war bisher kein Thema. Wenn aber seitens der Schweiz in derselben Art wie vom Vereinigten Königreich klargestellt würde, dass aus Souveränitätsgründen die Bedingungen der EU für eine Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt nicht akzeptiert werden können, würde sich die EU möglicherweise darauf einlassen. Damit bestünde dann aber ein völlig anderer, weniger weit gehender Zugang zum Markt der EU als heute. Das TCA wäre das Vorbild. Die dort enthaltenen Bestimmungen, um ein «level playing field» – also gleiche Wettbewerbsbedin­gungen – sicherzustellen, sind jedoch viel umfassender als im FHA 1972 bzw. als sie im InstA-­Entwurf vorgesehen waren: Die Schweiz müsste sich trotz fehlender Marktteilnahme an den regulatorischen Standards der EU orientieren, etwa beim Umweltschutz, im Sozialwesen oder bei Arbeitnehmer/-innenrechten. Um eine Entscheidung kommt die Schweiz also nicht herum, und sei es, dass sie unter Inkaufnahme der Konsequenzen entscheidet, nichts zu tun.

¹ Die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarkts umfassen die Freiheit von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen.