Arbeitsmigration
«Das Wohlbefinden kommt nicht mit weniger Menschen»
Weshalb fühlen wir Dichtestress?

13. Dezember 2024, Fabio Giger
Auf den Strassen stauen sich die Autos, zu Stosszeiten sind freie Sitzplätze in Bussen und Bahnen rar, auf eine freie Wohnung bewerben sich Dutzende Interessenten. Der sogenannte Dichtestress rangiert ganz oben auf der Sorgenliste der Bevölkerung. Weshalb fühlen wir Dichtestress? Und welche Lösungsansätze bieten sich an? Antworten darauf liefert die Stadtpsychologin Alice Hollenstein, Gründerin der Urban Psychology GmbH.
Frau Hollenstein, wann fühlen wir Dichtestress?
Wenn der Mensch die Kontrolle darüber verliert, was er von anderen hört oder riecht, oder wenn er mehr von sich preisgibt als gewollt, kann dies zu Stress führen. Studien haben gezeigt, dass der Speichel von Pendlerinnen und Pendlern eine höhere Konzentration des Stresshormons Cortisol aufweist, wenn sie im Zug zwischen zwei Menschen sitzen müssen. Das Gefühl der «Invasion in den persönlichen Raum» beginnt i.d.R. ab 60 cm, hängt aber auch von der Sympathie oder der Ähnlichkeit zum anderen Menschen und dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, ab.
«An erster Stelle sollte die Lebensqualität der Menschen stehen, gefolgt von der Gestaltung des öffentlichen Raums und dann den Gebäuden – und nicht umgekehrt.»

Dichtestress fühlen wir also vor allem im ÖV?
Nicht nur. Dichtestress entsteht auch, wenn wir uns in unserer Handlungsfreiheit gestört fühlen. Zum Beispiel, wenn es auf der Sonnenterrasse keinen Platz mehr am Schatten hat. Oder wenn man es eilig hat, aber an der Kasse im Laden lange anstehen muss.
In der öffentlichen Diskussion wird Bevölkerungswachstum oft als Auslöser von Dichtestress angesehen. Zu Recht?
Ich kann die Sorgen durchaus nachvollziehen. Wenn wir das Gefühl haben, nicht genügend Ressourcen und keinen Rückzugs- oder Privatraum zu haben, kann Stress entstehen. Meist stresst aber eher die Veränderung beziehungsweise das Gefühl, nicht die Kontrolle zu haben. Es macht evolutionsbiologisch Sinn, dass wir am Status quo festhalten wollen, denn diesen kennen wir. Ziehen neue Menschen zu, schwingt immer auch eine Angst mit, zu kurz zu kommen – sei es, weil Wohnraum knapper wird, weniger Plätze in der S-Bahn frei sind oder sich auf den Strassen Stau bildet. Allerdings wird in der Debatte oft vergessen: Gut organisierte Dichte kann auch als Bereicherung empfunden werden.
«Entscheidend ist, ob mir die Anwesenheit anderer Menschen etwas gibt oder wegnimmt.»
Alice Hollenstein
Das müssen Sie erklären.
Dichtestress hat nicht per se mit der Anzahl der Menschen an einem Ort zu tun. Entscheidend ist, ob mir die Anwesenheit anderer Menschen etwas gibt oder wegnimmt. Die Lebensqualität kann durch zusätzliche Menschen auch steigen. Kultur, Innovationen, Spezialisierungen: Viele Sachen profitieren von vielen verschiedenen Menschen. An einem Konzert oder im Fussballstadion kann es als angenehm empfunden werden, Schulter an Schulter neben vielen anderen Menschen zu stehen. Dieselbe Situation kann am nächsten Morgen in der Bahn Stress auslösen.
Es spielen also psychologische Faktoren beim Dichtestress mit, die gar nichts mit dem effektiven Platz um uns herum zu tun haben?
Genau, Dichtestress ist weniger ein mathematisches als ein psychisches Phänomen. Es gibt Experimente, die dies belegen: Zehn Personen wurden in einen 100 Quadratmeter grossen Raum gestellt. Sie empfanden weniger Stress, wenn sich der Raum auf 50 Quadratmeter verkleinert, als wenn zehn weitere Personen hinzukommen. Obwohl die Dichte mathematisch gleich bleibt, empfinden wir die Anwesenheit neuer Menschen als unangenehmer. Es geht also weniger um die Zahl der Menschen, sondern um die Wahrnehmung und das subjektive Gefühl der Kontrolle über die Situation.
«Eine gewisse Dichte ist notwendig, um Gemeinschaft und Infrastruktur tragfähig zu erhalten.»
Alice Hollenstein
Einige Regionen der Ostschweiz wachsen nur langsam oder schrumpfen sogar. Kann das Leben dort eher als beruhigend empfunden werden?
Ländliche Gebiete mit geringer Bevölkerungsdichte können durchaus einen entschleunigenden Charakter haben. Oft weisen sie aber auch weniger wirtschaftliche und soziale Strukturen auf. Es gibt weniger Möglichkeiten für Hobbys, Beruf oder zum Ausgehen als in Städten. Klar: Mehr ist nicht immer besser. Aber die Wege zwischen Arbeitsplatz, Wohnort und Freizeitinfrastrukturen sind tendenziell länger, beanspruchen mehr Zeit. Eine gewisse Dichte ist notwendig, um Gemeinschaft und Infrastruktur tragfähig zu erhalten.
Nun dürfte die Schweiz in den nächsten Jahren weiterwachsen. Das bringt Herausforderungen mit sich.
Herausforderungen ja, aber diese sind bewältigbar. Das allgemeine Wohlbefinden lässt sich nicht mit weniger Menschen steigern, sondern mit gut organisierter Dichte. Wenn Gebäude und öffentlicher Raum gut organisiert und attraktiv gestaltet sind, dann kann Dichte als angenehm empfunden werden. Denken Sie nur an den Reiz einer Stadt mit vielen Pubs, Cafés, Flaniermeilen oder Pärken. Städte wie Paris, Barcelona oder New York besuchen wir, weil wir die dichte, lebendige Atmosphäre geniessen.
«Wenn jeder und jede das macht, wonach ihm gerade ist, führt dies zu fragmentiertem Raum, wovon die Allgemeinheit selten profitiert.»
Alice Hollenstein
Sollten wir uns also Grossstädte als Vorbild nehmen?
Keine dieser tollen Städte ist per Zufall entstanden. Dahinter steckten klare Visionen. Wenn jeder und jede das macht, wonach ihm gerade ist, führt dies zu fragmentiertem Raum, wovon die Allgemeinheit selten profitiert. Gefragt sind umsichtige «Urban Manager/innen» in Verwaltung und Politik, welche die Gemeinden in die Zukunft führen.
Wie gelingt dies?
An erster Stelle sollte die Lebensqualität der Menschen stehen, gefolgt von der Gestaltung des öffentlichen Raums und dann den Gebäuden – und nicht umgekehrt. Es ist unumgänglich, genügend Ressourcen bereitzustellen, damit die Auswirkungen
des Bevölkerungswachstums nicht als «Verluste » für die bereits ansässige Bevölkerung wahrgenommen werden. Vielfältige Wohnmöglichkeiten mit Privatsphäre und Raum für Begegnung, attraktive öffentliche Flächen und ein gut funktionierender öffentlicher Verkehr sind entscheidende Elemente. Idealerweise ist zudem der Zugang zu Erholungsräumen wie Seen, Flüssen, Parks und Wäldern sicher und einfach gestaltet.