Wachstum

Napoleons Protektionismus zum Trotz

Der Ostschweizer Exportboom in die USA im 19. Jahrhundert.

7. März 2025, Erich Deschwanden

Eine technologische Innovation und der um sich greifende Protektionismus in Europa bewogen einige St.Galler Textilkaufleute, ihr Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen. Ihr Mut wurde reich belohnt, denn ihre Qualitätsprodukte waren begehrt, und die Nachfrage wuchs rasant. Auch die IHK hatte ihren Anteil daran.

Im 11. Jahrhundert begann im Bodenseeraum die Blütezeit des Leinwandgewerbes und im Spätmittelalter wurde St.Gallen dessen Zentrum. Ab 1720 wurde die Leinwand allmählich von der Herstellung von Baumwollartikeln abgelöst. Der neue Beschäftigungszweig breitete sich unaufhaltsam aus. Um 1790
spannen in der Ostschweiz, im benachbarten Vorarlberg und in Schwaben Tausende von Frauen und Mädchen Garn für die Kaufleute und Fabrikanten der st.gallisch-appenzellischen Baumwollverarbeitung. Dabei war das Baumwollspinnen für die Heimarbeiter und ihre Familien eher nachrangig. Sie bevorzugten das Weben. Wie schon zu Zeiten der Leinwand stellten sie ihre Webstühle im Keller auf, nicht aus Platzgründen, sondern wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, welche das spröde Garn geschmeidig hielt und ein Reissen der feinen Fäden verhütete.

Höhere Produktivität dank der «Mule-Jenny»

Um 1790 tauchte in Appenzell Ausserrhoden zum ersten Mal englisches Maschinengarn auf, das auf der von Samuel Crompton 1779 erfundenen «Mule-Jenny» hergestellt worden war. Das neue Gerät war etwa acht Mal produktiver als die herkömmliche Handspindel. Aber damit nicht genug. Kenner erkannten sofort, dass der Faden des Maschinengarns wegen seiner Regelmässigkeit dem Handgarn auch qualitativ überlegen war. Bereits 1798 wurde der grösste Teil der appenzellischen Baumwolltücher aus englischem Maschinengarn gefertigt, was zu einem rapiden Preissturz beim einheimischen Garn und einem enormen Druck auf die Spinnerlöhne führte. In wenigen Jahren wurden mehr als 100’000 Handspinner in die Verelendung getrieben, und zwischen 1800 und 1810 wurde das Gewerbe nahezu vollständig verdrängt. 30 bis 40 Prozent des schweizerischen Volkseinkommens dürften durch die Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen worden sein.

Spinnmaschine Mule Jenny im Industriemuseum Gent

Mule Jenny im Industriemuseum Gent. Foto: Paul Hermans.

Gründungswelle bei Spinnereien

1798 schlug der in Bordeaux als helvetischer Konsul tätige Waadtländer Marc Antoine Pellis vor, Maschinen englischer Konstruktion, die in Frankreich gebaut worden waren, in die Schweiz einzuführen. Seine Anregung fand Anklang bei der helvetischen Regierung und beim Kaufmännischen Directorium in St.Gallen, der Vorläuferorganisation der heutigen IHK St.Gallen-Appenzell. Das Directorium vermittelte im Jahr 1800 zwischen Pellis und einer Anzahl von Interessenten einen Vertrag für den Ankauf von 26 Mule-Maschinen, welche im ehemaligen Kloster St.Gallen aufgestellt wurden. 1801 wurde dort die erste Spinnerei-Aktiengesellschaft der Schweiz gegründet. Sie beschäftigte bald einmal an die 120 Personen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Das Beispiel machte Schule. 1806 setzte eine Gründungswelle ein, die im Kanton Zürich bis 1814 die Zahl der mechanischen Baumwollspinnereien auf 60, im Kanton St.Gallen auf 17 und im Appenzellerland auf 7 ansteigen liess. Davon profitierten vor allem die Weber. Da sie sich mit aller Vehemenz und über Jahrzehnte hinweg erfolgreich gegen die Einführung mechanischer Webstühle wehrten, wuchs ihre Zahl bis in die 1840er-Jahre auf rund 50’000 an.

Der Artikel basiert auf dem Hauptbeitrag im Neujahrsblatt 2025 des Historischen Vereins des Kantons St.Gallen. Er wurde verfasst vom Ökonomen und ehemaligen Wirtschaftsjournalisten Erich Deschwanden unter dem Titel «Stapelplatz New York: Der Export von Ostschweizer Baumwollwaren in die USA (1820 – 1860)». Die Publikation erscheint am 12. März 2025 im Verlag Format Ost / Verlagshaus Schwellbrunn.

Napoleon öffnet das Tor zum Welthandel

Für die Verleger und Kaufleute in St.Gallen und im Appenzellerland stellte sich nun das Problem, den stetig wachsenden Ausstoss an Baumwollwaren in neue Märkte abzusetzen. Ihrem Vorhaben stand Napoleon im Wege, der mit seiner gegen England gerichteten Kontinentalsperre in ganz Europa die Handelsgrenzen geschlossen hatte. Nach dem endgültigen Sturz des «Empereur» im Jahre 1815 überschwemmte Grossbritannien den Kontinent mit billigen Baumwollprodukten. Viele Staaten wehrten sich mit Schutzzöllen. Andere, wie Frankreich, die Niederlande oder Spanien, verhängten gar totale Importsperren. Den Ostschweizer Textilkaufleuten blieb nichts anderes übrig, als ihr Glück im Welthandel zu suchen.

Mechanische Spinnerei im Töbeli zwischen Trogen und Speicher. Federaquarell von Johann Ulrich Fitzi (1798–1855). Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, KB-023607/423.

Stapelplatz New York

Zum wichtigsten Markt in Übersee wurden die Vereinigten Staaten von Amerika. Ab 1819 gingen regelmässige Sendungen mit weiss und bunt bestickten Mousselinestücken sowie mit gestreiften, karierten, geblümten und brochierten Stoffen über den Atlantik. Von New York aus erfolgte der weitere Vertrieb ins Innere des Landes, aber auch nach Havanna und Mexiko. Die feinen handgewobenen Artikel aus der Ostschweiz waren besonders bei der betuchten Kundschaft beliebt. Zudem behaupteten sie sich erfolgreich gegen die Produkte der damals schon hochentwickelten amerikanischen Industrie. Für die Baumwollfabrikanten in Neuengland war es lukrativer, statt teure Qualitätsgüter billige Massenware für den stetig wachsenden Strom von Einwanderern und Siedlern im Westen herzustellen.

New York City aus der Vogelperspektive, 1856. Lithografie von Charles Parsons (1821 – 1910). Library of Congress, Washington D.C.

Wachstum nach dem Wachstum

Der Exportboom dauerte bis zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges im Jahre 1861. Nach den blutigen Auseinandersetzungen kam das Geschäft nicht mehr richtig in Gang. Die handgefertigten Erzeugnisse wurden immer mehr durch mechanisch gewobene Produkte ersetzt. Obwohl die Ostschweizer mit dem Aufkommen der Maschinenwebstühle ihre internationale Konkurrenzfähigkeit in der Weberei verloren, gelang es ihnen trotzdem, die transatlantischen Handelsbeziehungen weiter auszubauen. Die Grundlage des neuen Geschäftes waren Maschinenstickereien, die auf der Handstickmaschine, welche in den 1850er-Jahren die Marktreife erlangt hatte, produziert wurden. Sie entwickelten sich sofort zu einem Verkaufsschlager und stellten auf Jahrzehnte hinaus alle bisherigen Exporterfolge in die USA in den Schatten.

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