Schriftenreihe Arbeitsmigration
Das BIP pro Kopf steigt –
auch dank der Zuwanderung
Die Schweiz geniesst einen breit verteilten Wohlstand, dank Breitenwachstum und Produktivitätsgewinnen. Wie kommt das?

22. Januar 2025
Die Schweiz ist wirtschaftlich erfolgreich, doch hohe Zuwanderungszahlen werfen Fragen zum Wohlstand auf. Kritiker meinen, die Schweizer Wirtschaft wachse vorwiegend «in die Breite»: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wachse vorwiegend, weil die Bevölkerung wachse.1 Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Wie ist das BIP pro Kopf in der Schweiz gewachsen?
Zwischen 2002 und 2023 wuchs das BIP der Schweiz insgesamt jährlich um durchschnittlich 1,84%. Wohlstandsgewinne sind an der inländischen Wertschöpfung pro Person ablesbar – also am BIP pro Kopf, das seit 2002 jährlich um 0,90% gewachsen ist.2 Das heisst: Die eine Hälfte des Wirtschaftswachstums wurde durch eine zunehmende Zahl von Arbeitskräften (quantitatives Wachstum) erzielt, die andere durch Produktivitätssteigerungen (qualitatives Wachstum) oder eine höhere Erwerbsquote.
Ist es problematisch, wenn die Schweiz «in die Breite» wächst?
Ein gewisses «Breitenwachstum» (oder quantitatives Wachstum) – also das Wirtschaftswachstum durch eine wachsende Bevölkerung – ist entscheidend, um auch «qualitativ» zu wachsen. Die Qualität des Wachstums hängt von der Produktivitätssteigerung, also der Effizienz, ab. Dieses ist jedoch auch vom Mengenwachstum abhängig: Ohne Zuwanderung würde das Produktivitätswachstum langfristig zurückgehen. Innovation erfordert qualifizierte Arbeitskräfte.3
Den Umkehrschluss zu ziehen, dass weniger qualifizierte Zugewanderte nur das Breitenwachstum und nicht das qualitative Wachstum fördern, ist zu kurz gedacht. Beschäftigte in «weniger qualifizierten» Bereichen ermöglichen es Hochqualifizierten, ihre Ressourcen auf Innovationen zu konzentrieren – ein komplementäres Verhältnis. Es wäre schwer, tertiärgebildete Hochqualifizierte anzustellen, wenn niemand da ist, der Gemüse erntet, Maschinen bedient oder Kinder betreut.4 Kommt hinzu: Eine wachsende Wirtschaft stärkt das Vertrauen von Firmen und Konsumenten.5
Die gesamte Analyse, detaillierte Resultate unserer Mitgliederumfrage und die umfassende Position der IHK St.Gallen-Appenzell finden sie in unserer Schriftenreihe:
Die Position der IHK St.Gallen-Appenzell im Thema Arbeitsmigration
Die Personenfreizügigkeit mit der EU aufrechterhalten
Ohne ausländische Arbeitskräfte geht es nicht. Heute nicht und schon gar nicht in der Zukunft. Die Personenfreizügigkeit mit der EU stellt dabei eine unbürokratische, arbeitsmarktorientierte Zuwanderung sicher. Das ist ein entscheidender Vorteil für die Ostschweizer Wirtschaft (vgl. Grafik): Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, braucht hier eine Stelle oder ausreichend Mittel, um sich selbst zu finanzieren.
Den inländischen Arbeitsmarkt stärken
Die Schweiz ist als Arbeitsland attraktiv. Das soll auch so bleiben. Arbeitskräfte werden rar, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Umso wichtiger werden eine hohe Arbeitsmarktbeteiligung und eine produktive Wirtschaft. Dafür muss sich Arbeit lohnen – hohe Pensen dürfen kein steuerlicher Nachteil sein. Flexible Arbeitsmodelle, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine bessere Integration von älteren Personen in den Arbeitsmarkt können diesen zusätzlich stärken.
Die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen – rasch und gezielt
Knapper Wohnraum und überlastete Verkehrsinfrastruktur sind grosse Herausforderungen unserer Zeit. Die Zuwanderung verschärft solche Herausforderungen, sie ist aber nicht deren einziger Treiber. Deshalb kann eine Einschränkung der Zuwanderung auch nicht die einzige Lösung sein. Stattdessen braucht es eine breite Palette an Massnahmen, um Wohnraum und Mobilität fit für die Zukunft zu machen.
Welchen Einfluss hatte die Zuwanderung auf das BIP pro Kopf?
Der wichtigste Treiber für qualitatives Wachstum ist die Arbeitsproduktivität. Die Schweiz wurde in den letzten zwei Jahrzehnten produktiver. Zwischen 2012 und 2023 wuchs das BIP pro Kopf jedes Jahr um durchschnittlich 0,78%, hauptsächlich durch eine gestiegene Arbeitsproduktivität (+1,01%).6 Der Einfluss der Zuwanderung lässt sich nicht exakt messen. Die Analyse der einzelnen Wachstumskomponenten zeigt aber, dass die Zuwanderung den Wohlstand in der Schweiz positiv beeinflusst haben dürfte.
1. Die Erwerbsquote ist gestiegen
82% der Bevölkerung der 15- bis 64-Jährigen in der Schweiz arbeiten, im Vergleich zum EU-Schnitt (71%) ein Spitzenwert. Arbeiten mehr Leute, schaffen also mehr Leute Werte, profitieren davon alle. Die ohnehin schon hohe Erwerbsquote konnte unter anderem dank Freizügigkeitszugewanderten weiter gesteigert werden. Die Erwerbsquote der Ausländerinnen und Ausländer, umgerechnet in Vollzeitstellen, liegt seit 2012 durchschnittlich bei 74,2% und damit 2,7 Prozentpunkte höher als die der Schweizerinnen und Schweizer, die bei 71,5% liegt.7
2. Die Arbeitsproduktivität ist gestiegen
Die erhöhte Zuwanderung hat den strukturellen «Mismatch» auf dem Arbeitsmarkt reduziert, indem Arbeitskräfte in Sektoren vermittelt wurden, in denen sie am dringendsten benötigt wurden.8 Zugewanderte übernehmen in der Regel Jobs, für die keine einheimischen Arbeitskräfte gefunden werden können. Allein schon durch diese Arbeitsteilung dürfte die Gesamtproduktivität gestiegen sein.9
In der Schweiz erhöht ein zusätzliches Ausbildungsjahr die Produktivität einer Person um etwa 8%.10 Rund 60% der Zugewanderten aus dem EU- und EFTA-Raum besitzen einen Hochschulabschluss. Durch diese Zuwanderung ist die Produktivität der Schweizer Wirtschaft zwischen 2000 und 2021 um schätzungsweise 3,5% gestiegen.11/12
Die Schweiz profitiert also von den meist jungen, tendenziell risikoaffinen Zugewanderten und ihren frischen Ideen und ihrem «importierten» Wissen.13/14 Das zeigt sich auch im Bereich der Unternehmensgründung: 73% der Start-ups und sogar 88% der Unicorns (Start-up-Unternehmen mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar) wurden von Ausländern (mit)gegründet. An Schweizer Hochschulen erarbeiten Ausländer etwa 40% der Master- und 70% der Doktorabschlüsse in MINT-Fächern. Viele technische Innovationen hierzulande basieren auf Fortschritten in den MINT-Bereichen. So liegt der Ausländeranteil in den zehn produktivsten Branchen der Schweiz bei rund 37% und damit deutlich höher als der Ausländeranteil von 27% in der Gesamtbevölkerung.15
3. Die durchschnittliche Arbeitszeit ist gesunken
Seit 1991 ist die wöchentliche Arbeitszeit von durchschnittlich 35,3 auf 31,2 Stunden im Jahr 2023 gesunken.16 Arbeiten wir heute fast 12 Prozent weniger lang? Die Antwort auf diese Frage ist etwas komplexer. 1990 arbeiteten zirka 20% der Beschäftigten in der Schweiz Teilzeit, während dieser Anteil bis 2022 auf 34% stieg. Dieser Trend ging Hand in Hand mit einer stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen und veränderten Arbeitszeiten bei Männern. Die Rechnung ist einfach: Steigen der Teilzeitanteil und die Anzahl der Erwerbstätigen, sinkt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit.
Die erzielten Produktivitätssteigerungen bei hohem Wohlstandsniveau ermöglichten es jedoch auch, dass zumindest ein Teil dieser Steigerungen nicht in Form höherer Löhne, sondern als zusätzliche Freizeit und auf Kosten der Arbeitszeit genutzt wurde. Dank höherer Effizienz und Löhne konnte mit weniger Arbeitszeit das gleiche Einkommen erzielt werden. So ist der Produktivitätsanstieg parallel zur Verringerung der Arbeitszeit verlaufen.17
Weil Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz sowohl eine höhere Erwerbsquote in Vollzeitäquivalenten aufweisen als auch im Durchschnitt fast vier volle Arbeitswochen (42 Stunden/Woche) pro Jahr mehr arbeiten als Schweizerinnen und Schweizer18/19, ist davon auszugehen, dass sie auch diese Wachstumskomponente des BIP pro Kopf stützen.
4. Der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft
Die Schweiz ist in den letzten Jahren nicht nur gewachsen, sie ist auch gealtert. Zwischen 2012 und 2023 ist die Bevölkerung im Pensionsalter (+25%) stärker gewachsen als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (+7%).20 Seit 2020 übersteigen in der Schweiz die Renteneintritte die Anzahl neuer Arbeitskräfte, die in den Arbeitsmarkt eintreten.21 Die Zuwanderung in die Schweiz hat die Alterungsstruktur der Bevölkerung verjüngt, da viele Migranten im erwerbsfähigen Alter ins Land kommen. Die Nettozuwanderung ist in der Schweiz unter den 20-39 Jährigen am grössten. Ohne Zuwanderung würde die Alterung der Schweizer Gesellschaft noch schneller voranschreiten. Dieser demografische «Verjüngungseffekt» wird auch in Zukunft weiter anhalten.22
Warum der Fokus allein auf das BIP zu kurz greift
Der alleinige Fokus auf das BIP-Wachstum verfehlt die Realität, da es den umfassenden Wohlstand der Schweiz nicht vollständig erfasst. Volkswirtschaften mit bereits hoher Wirtschaftsleistung und Produktivität wie die Schweiz wachsen tendenziell langsamer als Länder mit einem tieferen Ausgangsniveau. Ein Wachstum von 1% in der Schweiz wiegt aufgrund des Basiseffekts in Franken fast doppelt so viel wie ein 1%-Wachstum in Italien. Die Verbesserung der Handelsbedingungen, wie höhere Exportpreise und sinkende Importpreise, steigert den Wohlstand zusätzlich, wird jedoch im BIP nicht ausreichend berücksichtigt. Gleichzeitig profitieren die Menschen von stabilen Löhnen, einer geringen Arbeitslosigkeit und einer egalitären Einkommensverteilung. Diese wirtschaftliche Stärke trägt auch dazu bei, dass die Schweiz zu den glücklichsten Nationen der Welt zählt.23
Literatur
1 Fuster (2022)
2 BFS (2024, g)
3 Leisibach (2023, a)
4 Minder (2024)
5 Steck (2023)
6 BFS (2024, h)
7 BFS (2024, i)
8 Stalder (2010)
9 Müller et al. (2013)
10 SKBF (2023)
11 Leisibach (2023, a)
12 Müller-Jentsch (2008)
13 SECO (2015)
14 Cristelli und Lissoni (2020)
15 Leisibach (2023, a)
16 BFS (2024, u)
17 Mergle et al. (2024)
18 BFS (2024, s)
19 BFS (2024, k). Der Unterschied in der tatsächlichen Jahresarbeitszeit zwischen Schweizern und Ausländern kann hauptsächlich mit der verbreiteteren Teilzeitarbeit bei Schweizern erklärt werden (Schweizer: 41,3%; Ausländer: 27,7% im Jahr 2023)
20 BFS (2024, l)
21 Zürcher (2024)
22 BFS (2020, a)
23 Leisibach (2023, b)