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Bürokratie als legale Herrschaft

Vorschriften und Regulierungen hemmen den unternehmerischen Geist Bürokratie als legale Herrschaft

Dr. Kurt Weigelt, IHK-Direktor

Bürokratie kostet: Allein die Regulierungskosten bei der Mehrwertsteuer werden auf knapp 1,8 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt. Zwar werden viele Regulierungen mit allgemeinen Entwicklungen wie Globalisierung oder Umweltschutz gerechtfertigt. Trotzdem bestehen grosse kantonale Unterschiede bei der Regulierungsdichte. Die Westschweizer Kantone sind stärker reguliert als die deutsche Schweiz – mit Ausnahme von Zürich und St. Gallen. Schwerer wiegt aber der immaterielle Schaden der Regulierung: Sie beschädigt die intrinsische Motivation der Unternehmerinnen und Unternehmer.

Die Fakten sind bekannt: Anfang 2016 waren in der Schweiz 4 900 Bundeserlasse mit insgesamt 69 000 Regelungen in Kraft. Dazu kamen rund 17 000 kantonale Erlasse. Nach Schätzungen des Staatssekretariates für Wirtschaft Seco verursachten alleine die geltenden Lebensmittelhygiene-Vorschriften Kosten von 1,3 Milliarden Franken pro Jahr. Die Regulierungskosten bei der Mehrwertsteuer beziffert das Seco auf 1,76 Milliarden Franken. Eine Baubewilligung für einen durchschnittlichen Umbau einer durchschnittlichen Wohnliegenschaft umfasst mehr als 90 Auf­lagen, Bestimmungen und Bedingungen. Und ebenso bekannt sind all die gescheiterten Versuche, die überbordende Bürokratie zu stoppen. 2004 stellte Nationalrat Arthur Loepfe dem Bundesrat die Frage, ob man nicht bei jeder neuen Regelung eine alte Regelung mit den gleichen Kosten wegstreichen könnte. Der Bundesrat lehnte ab. Die Bürokratiestopp-Initiative der FDP scheiterte bereits bei der Unterschriftensammlung. 2015 forderte der bürgerliche Schulterschluss zur Stärkung des Standortes Schweiz einen Kurswechsel bei wettbewerbsschädlichen Regulierungsprojekten. Der Schulterschluss ist Geschichte, die Regulierungsprojekte sind geblieben.

Kantonale Unterschiede

Üblicherweise wird die sich drehende Bürokratiespirale mit der Globalisierung, Fragen der Sicherheit und des Umweltschutzes begründet. Tatsache ist jedoch, dass die gleichen gesetzlichen Anforderungen in den einzelnen Kantonen zu einer höchst unterschiedlichen Regulierungsdichte führen. Gemäss einer von den Universitäten Luzern, Freiburg und Zürich im Jahre 2015 publizierten Studie funktioniert der Kanton Appenzell Ausserrhoden mit nur 330 Erlassen. Der Kanton Neuenburg dagegen bringt es als unrühmlicher Spitzenreiter auf rund 1 100 Erlasse. Notabene der Kanton mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Wenig überraschend sind die Westschweizer Kantone stärker reguliert als die Kantone der deutschen Schweiz. Mit zwei Ausnahmen: Zürich und St. Gallen. Der Kanton St. Gallen ändert zudem seine Erlasse am häufigsten. Für einmal sind wir ganz vorne mit dabei. Bürokratie ist kein Naturgesetz, sondern hat sehr viel mit politischer Kultur zu tun.

Vollzugsperfektionismus

Die Regulierungen an sich sind nur die eine Seite der Medaille. Nicht weniger folgenreich ist der Vollzugsperfektionismus. Dazu gehört beispielsweise, dass der Wechsel eines Lebensmittelinspektors dazu führt, dass in einer neuwertigen Gastroküche für drei Mitarbeitende plötzlich nicht mehr nur drei, sondern neu fünf spezielle Handwaschmöglichkeiten installiert werden müssen. Und dies nicht bei einem nächsten Umbau, sondern innerhalb weniger Wochen, mit massiven Eingriffen in die Bausubstanz, zulasten der Arbeitsläufe und mit beträchtlichen Kostenfolgen. Vollends fragwürdig wird dieser Vollzugsperfektio­nismus, wenn man der Verfügung des Amtes für Verbraucherschutz und Veterinärwesen des Kantons St. Gallen den Verordnungstext gegenüberstellt: Dieser verlangt lediglich, dass an geeigneten Standorten genügend Handwasch­becken vorhanden sein müssen. Nicht mehr und nicht weniger. Selbstverständlich kann man sich als Betroffener mit rechtlichen Mitteln gegen diese Behördenwillkür zur Wehr setzen. Nur, dies geschieht auf eigene Kosten und mit dem Risiko, endgültig ins Visier der staatlichen Kontrolleure zu geraten. Und dies kann sich niemand leisten.

Immaterieller Schaden

Regulierungskosten werden üblicherweise in Franken und Rappen berechnet. Nicht weniger schädlich sind jedoch die immateriellen Folgen staatlicher Eingriffe. Bruno S. Frey, Universitätsprofessor und Glücksforscher, hat in seinen bemerkenswerten Arbeiten aufgezeigt, dass von aussen kommende Vorschriften, Regulierungen und Kontrollen die intrinsische Motivation der Betroffenen beschädigen. Intrinsisch bedeutet, dass jemand etwas aus reiner Freude an der Sache unternimmt. Dieser negative Effekt gilt besonders dann, wenn staatliche Regulierungen aus Befehlen und Strafandrohungen bestehen. Die Art und Weise, wie sich die Einzelnen durch die staatlichen Behörden behandelt fühlen, beeinflusst die Bereitschaft, sich zugunsten der Allgemeinheit zu engagieren. Eine staatliche Ordnung, die auf einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem Bürger basiert und diesen zu disziplinieren versucht, verdrängt den Gemeinsinn.

Die Motivation macht den Unterschied

Besonders betroffen machen bürokratische Vorschriften die Entscheidungsträger von kleineren und mittleren Unternehmen. Zahllose Untersuchungen zeigen, dass das Streben nach Unabhängigkeit und das Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu den wesentlichen Motiven gehören, in einem kleineren Unternehmen zu arbeiten. Die Motivation macht den Unterschied. Erfolgreiche kleinere und mittlere Unternehmen brauchen keine Subventionen, keine Förderprogramme und keine geschützte Marktstellung. Sie sind aber auf ein wirtschaftspolitisches Umfeld angewiesen, das ihrem Wesen gerecht wird und sie in ihren informellen Strukturen stärkt. Dazu gehört ein radikaler Abbau von bürokratischen Vorschriften. Auch in der Politik gilt das Pareto-Prinzip: Die meisten Aufgaben lassen sich mit einem Mitteleinsatz von 20 % so erledigen, dass 80 % aller Probleme gelöst werden. Oder negativ formuliert – 20 % Perfektionismus kosten 80 % des Aufwandes. Aber machen wir uns nichts vor: Politik und Verwaltung definieren sich nicht über Abbau, sondern über Aktivismus. Und so wird man uns auch in Zukunft mit neuen Gesetzen, Verordnungen und staatlichen Förderprogrammen beglücken. Bürokratie ist und bleibt, so Max Weber, die rationale Form legaler Herrschaft.

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