Schriftenreihe Arbeitsmigration

Be- oder entlastet Zuwanderung das Sozialsystem?

Zugewanderte stützen die AHV stärker als sie belasten – sie zahlen 40% der Beiträge, beziehen aber weniger als 30% der Leistungen.

5. Februar 2025

Das weit ausgebaute Sozialsystem der Schweiz wird oftmals als «Wohlfahrtsmagnet» dargestellt.1 Empirische Studien zeigen ein komplexeres Bild.

Wie beeinflusst die Migration die AHV?

Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist im Umlageverfahren finanziert. Die Beiträge der Erwerbstätigen und anderer Beitragspflichtiger eines Jahres decken die Leistungen an Berechtigte im selben Jahr. Laut Prognosen wird die AHV ab 2029 mehr Geld ausgeben als einnehmen. Das kumulierte Umlagedefizit über die nächsten 15 Jahre wird über 25 Milliarden Franken betragen.2 Hauptgrund dafür ist die rasch ansteigende Anzahl rentenberechtigter Personen im Pensionsalter.

Migranten leisten einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der AHV. Rund 27% der in der Schweiz lebenden Personen haben keinen Schweizer Pass. Diese Gruppe zahlt 33% der AHV-Beiträge, während sie 18,3% an Leistungen bezieht (Abbildung 17)3. Wird anstelle der Staatsangehörigkeit nach Geburtsstaaten der Beitragszahlenden (im Ausland Geborene gegenüber in der Schweiz Geborenen) unterschieden, fallen die Resultate ähnlich aus: Heute leisten im Ausland Geborene 40% der Beiträge zur AHV und beziehen weniger als 30% der Leistungen.4 Diese Verhältnisse haben sich seit Einführung der PFZ «zugunsten» der Schweizer Bevölkerung verschoben. Die Beiträge von Personen aus EU/EFTA-Staaten stiegen zwischen 2003 und 2020 um 8 Prozentpunkte, während der Beitrag der Schweizer fast im gleichen Umfang sank.5

Zugewanderte erwerben durch ihre Beiträge auch Leistungsansprüche. Prognosen bis 2070 zeigen, dass sie aber keine überproportionalen Leistungsansprüche erwerben. Im Gegenteil: Personen aus EU/EFTA-Staaten werden 2070 etwa 50% der Beiträge leisten, aber nur etwas über 40% der Leistungen beziehen (Abbildung 17). Hauptgrund: Die meisten Zugewanderten lassen sich erst im Verlauf ihres Arbeitslebens in der Schweiz nieder.6 Nur 7% der ausländischen Staatsangehörigen erreichen eine vollständige «Beitragskarriere». 83% der Schweizer Staatsangehörigen beziehen eine Vollrente.7

Die gesamte Analyse, detaillierte Resultate unserer Mitgliederumfrage und die umfassende Position der IHK St.Gallen-Appenzell finden sie in unserer Schriftenreihe:

Die Position der IHK St.Gallen-Appenzell im Thema Arbeitsmigration

Die Personenfreizügigkeit mit der EU aufrechterhalten
Ohne ausländische Arbeitskräfte geht es nicht. Heute nicht und schon gar nicht in der Zukunft. Die Personenfreizügigkeit mit der EU stellt dabei eine unbürokratische, arbeitsmarktorientierte Zuwanderung sicher. Das ist ein entscheidender Vorteil für die Ostschweizer Wirtschaft: Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, braucht hier eine Stelle oder ausreichend Mittel, um sich selbst zu finanzieren.

Den inländischen Arbeitsmarkt stärken
Die Schweiz ist als Arbeitsland attraktiv. Das soll auch so bleiben. Arbeitskräfte werden rar, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Umso wichtiger werden eine hohe Arbeitsmarktbeteiligung und eine produktive Wirtschaft. Dafür muss sich Arbeit lohnen – hohe Pensen dürfen kein steuerlicher Nachteil sein. Flexible Arbeitsmodelle, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine bessere Integration von älteren Personen in den Arbeitsmarkt können diesen zusätzlich stärken.

Die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen – rasch und gezielt
Knapper Wohnraum und überlastete Verkehrsinfrastruktur sind grosse Herausforderungen unserer Zeit. Die Zuwanderung verschärft solche Herausforderungen, sie ist aber nicht deren einziger Treiber. Deshalb kann eine Einschränkung der Zuwanderung auch nicht die einzige Lösung sein. Stattdessen braucht es eine breite Palette an Massnahmen, um Wohnraum und Mobilität fit für die Zukunft zu machen.

Beziehen Ausländer mehr Ergänzungsleistungen?

Ergänzungsleistungen (EL) in der Schweiz sind für Personen gedacht, deren Renten aus AHV und beruflicher Vorsorge nicht ausreichen, um das Existenzminimum zu sichern. 2023 betrugen die EL zu AHV-Renten 3,4 Mrd. Franken.8 Von den ausbezahlten Leistungen erhalten EL-Bezüger schweizerischer Staatsangehörigkeit 77%, EU/EFTA-Bürger 11% und Staatsangehörige aus Drittstaaten 12%. Fast vier von fünf AHV-Bezügern aus den EU/EFTA-Staaten leben mittlerweile im Ausland, wodurch sie keinen Anspruch auf EL haben. EL werden ausschliesslich an in der Schweiz wohnhafte Personen ausgezahlt.9

Weshalb belasten Ausländer die Arbeitslosenversicherung?

Angehörige von EU/EFTA-Staaten und Drittstaaten zahlen zwar erheblich in die Arbeitslosenversicherung (ALV) ein, beziehen aber überproportional mehr Leistungen als Schweizer Staatsangehörige. Immigranten sind häufiger arbeitslos als Schweizer. Insbesondere Personen aus Süd- und Osteuropa arbeiten oft in konjunkturanfälligen10 und generell von deutlich höherer Arbeitslosigkeit heimgesuchten Branchen. Das Risiko für Arbeitslosigkeit ist im Gastgewerbe (ca. 50% Ausländeranteil), im Baugewerbe (ca. 35%) und bei einfachen Dienstleistungen (ca. 37%) erhöht.

Und wie sieht es bei der Invalidenversicherung und Sozialhilfe aus?

Die Invalidenversicherung (IV) greift bei Versicherten, welche wegen einer körperlichen, psychischen oder geistigen Beeinträchtigung teilweise oder vollständig erwerbsunfähig sind. Migranten aus EU/EFTA-Ländern tragen insgesamt mehr zur Finanzierung der IV bei, als sie an Leistungen beziehen. Dieser Effekt wird in den kommenden Jahrzehnten Bestand haben, da die Zugewanderten unter anderem die demografische Alterung der Bevölkerung teilweise ausgleichen.11 Die Sozialhilfe bildet das letzte Auffangnetz im sozialen Sicherungssystem. Insbesondere Drittstaatenangehörige (inklusive Flüchtlinge) und Personen mit geringeren beruflichen Qualifikationen haben eine höhere Sozialhilfequote als Einheimische. Die Sozialhilfequote für EU/EFTA-Staatsangehörige ist in den letzten Jahren gesunken, was auf gut qualifizierte Zugewanderte und deren Arbeitsmarktorientierung zurückzuführen ist.12

Fazit

Arbeitsmarktbedingungen oder soziale Netzwerke beeinflussen die Migrationsentscheidung stärker als die Grosszügigkeit des Sozialstaats13/14. Migranten wählen oft Länder mit einem ähnlichen Wohlfahrtsniveau wie ihre Herkunftsländer, um ihren sozialen Status zu erhalten. Es gibt keine ausreichende empirische Evidenz, dass grosszügige Wohlfahrtssysteme als wesentlicher Anreiz für Migration wirken.15

Literatur