Arbeitsmigration
Arbeitsmigration nach St.Gallen zur Zeit der Stickereiblüte
Vom Ab- zum Zuwanderungsland Schweiz.
13. Dezember 2024, Marcel Mayer
Über Jahrhunderte war die Schweiz ein Auswanderungsland. In aller Regel übertraf die Zahl der jährlich emigrierenden Einheimischen jene der immigrierenden Fremden. Grundlegend und langfristig veränderte sich dies in den späten 1880er-Jahren. Von dieser Zeit an wurde die Schweiz dauerhaft zu einem Einwanderungsland mit grösserer Zu- als Abwanderung.
Die zunehmende Immigration war in der Stadt St.Gallen und deren Umland deutlich spürbar. Die Stickereiindustrie erlebte dank der erfolgreichen Mechanisierung des Stickvorgangs um die Mitte des 19. Jahrhunderts und nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) eine Hochkonjunktur, die – mit Unterbrechungen – bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs andauerte. In der Zeit dieser sogenannten Stickereiblüte entstanden in der Stadt und in deren Umgebung viele Arbeitsplätze, sodass sich die Arbeitsmigration nach St.Gallen immer mehr verstärkte. Ohne diese Arbeitsmigration wäre die Stickereiblüte nicht möglich gewesen.
«1914 stammten 67 Prozent der in St.Gallen lebenden Immigranten und Immigrantinnen aus Deutschland,
19 Prozent aus Österreich.»
Marcel Mayer
Zum Autor:
Der Historiker Marcel Mayer war von 1986 bis 2019 Leiter des Stadtarchivs der Politischen Gemeinde St.Gallen.
Auf dem Territorium der heutigen Stadt St.Gallen gab es damals drei selbstständige politische Gemeinden, und zwar St.Gallen (später St.Gallen-Centrum), Tablat (St.Gallen-Ost) und Straubenzell (St.Gallen-West), die 1918 fusionierten. Im Jahr 1860 zählten alle drei Gemeinden zusammen etwas über 23’000 Einwohner und Einwohnerinnen. 1910, ein halbes Jahrhundert später, waren es mehr als dreimal so viele, nämlich bereits knapp 75’500. Ein erheblicher Teil dieses Wachstums war eine Folge der Zuwanderung, und entsprechend stieg der Bevölkerungsanteil der Ausländer und Ausländerinnen zwischen 1860 und 1910 von 12 auf 33 Prozent.
Eine Aufschlüsselung der ausländischen Bevölkerung nach Nationalitäten und Sprachgruppen zeigt markante Unterschiede zwischen St.Gallen, Tablat und Straubenzell. 1914 stammten 67 Prozent der in St.Gallen lebenden Immigranten und Immigrantinnen aus Deutschland, 19 Prozent aus Österreich. Damit waren über 80 Prozent der Ausländer und Ausländerinnen deutschsprachig (wobei einige Personen aus der Donaumonarchie wohl nicht deutscher Muttersprache gewesen sein dürften). In Tablat und Straubenzell hingegen machten die deutschsprachigen «Fremden» 1910 nur 52 Prozent der ausländischen Einwohnerschaft aus. Traditionell arbeiteten die deutschsprachigen Immigranten und Immigrantinnen in einem breiten Berufsspektrum, das von
Dienstboten über Handwerker bis zu Kaufleuten und Kulturschaffenden reichte.
Die zweite grosse ausländische Bevölkerungsgruppe bildeten die Italiener und Italienerinnen. Sie machten in St.Gallen in den frühen 1910er-Jahren zwar nur acht Prozent aller Ausländer und Ausländerinnen aus, in Straubenzell und Tablat jedoch 45 Prozent. Ihre ungleiche Verteilung auf die drei Gemeinden ist darauf zurückzuführen, dass die Bodenpreise und damit auch die Wohnungsmieten in Tablat und Straubenzell erheblich tiefer waren als in St.Gallen. Damit waren sie für die aus Italien in die Ostschweiz migrierten Arbeitskräfte eher erschwinglich, arbeiteten diese doch zum allergrössten Teil in schlecht entlohnten Berufen.
Durch Arbeitsmigration zur Wirtschaftsblüte
Während der Stickereiblüte von 1870 bis 1914 erlebte die Ostschweiz einen noch nie dagewesenen Wirtschaftsboom. Die hohe Zuwanderung – Arbeitsmigration – hat diesen Boom überhaupt möglich gemacht. St.Gallen hat dieser kurzen Blüte Grösse und Wohlstand zu verdanken. Wirtschaftswachstum und Wohlstand sind untrennbar mit Migration verbunden.
Markus Bänziger
Direktor IHK St.Gallen-Appenzell
Die «klassischen» italienischen Immigrantinnen jener Zeit waren in der Textilindustrie tätig. Als Fabrikarbeiterinnen in Stickereien, Webereien und Spinnereien trugen sie somit massgeblich zur Hochkonjunktur der Textilstadt St.Gallen bei. Viele von ihnen kamen in sehr jungen Jahren in die Ostschweiz, einige waren in äusserst streng geführten religiösen Mädchenheimen untergebracht. Die «klassischen» Italiener hingegen arbeiteten in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert vornehmlich in der Baubranche. Die Stickereiblüte löste einen Bauboom aus, mussten für die wachsende Bevölkerung doch Wohnhäuser sowie Fabrik-, Gewerbe- und Infrastrukturbauten erstellt werden. Wer aus Italien stammte, stiess bei der einheimischen Bevölkerung wegen der damals grossen kulturellen und mentalitätsmässigen Unterschiede im Allgemeinen auf wenig Sympathie. Die Italiener und Italienerinnen lebten denn auch oft abgesondert und auf einzelne Quartiere konzentriert, gleichsam in Ghettos, wie im Gebiet um den Bahnhof St.Fiden, das im Volksmund «Klein-Venedig» hiess.
Die weder deutsch- noch italienischsprachigen Ausländer und Ausländerinnen kamen aus verschiedenen Ländern nach St.Gallen, etwa aus Frankreich, Belgien, den USA oder Grossbritannien. Ab 1900 gelangten auch aus Osteuropa stammende, vor Pogromen flüchtende, oft orthodoxe Juden und Jüdinnen hierher. Erleichtert wurde die Migration vor dem Ersten Weltkrieg durch eine ausgesprochen liberale Einwanderungspraxis. Sie war unbürokratisch und lag im Interesse der Wirtschaft, die dadurch leicht fremde Arbeitskräfte rekrutieren konnte. Offene Grenzen zwischen der Schweiz und den Nachbarländern waren damals Realität und Alltag.
Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung von: Marcel Mayer: Immigration nach St.Gallen zur Zeit der Stickereiblüte 1870–1914, in: Reinhard Baumann und Rolf Kiessling (Hrsg.): Mobilität und Migration in der Region, Konstanz / München 2014 (Forum Suevicum, Bd. 10).