Seit 1466

Über 555 Jahre IHK St.Gallen-Appenzell

Die bewegte Geschichte einer der ältesten Handelskammern der Welt

Im Sommer 2022 feierte die IHK St.Gallen-Appenzell ihr 555-jähriges Jubiläum. Die Ursprünge des bedeutendsten Ostschweizer Wirtschaftsverbands lassen sich bis zum 15. August 1466 zurückverfolgen. In ihrer bewegten Geschichte trugen die IHK respektive ihre Vorgängerorganisationen wesentlich zur Entwicklung der Region bei: Sie unterhielten einen weitreichenden Post- und Kurierdienst, etablierten die Telegrafie hierzulande, begründeten mehrere Bildungsinstitutionen mit (darunter die heutige Universität St.Gallen) und trugen aktiv zum Ausbau des Eisenbahnnetzes bei. Über all die Jahre geblieben ist der Einsatz für den Aussenhandel. Eine Tour d’Horizon durch die über 555-jährige Geschichte der IHK St.Gallen-Appenzell in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen.

Die Geschichte der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell und ihrer Vorgängerorganisationen ist dabei eng mit jener St.Gallens verbunden. Die Stadt St.Gallen wuchs um das 719 gegründete Kloster herum, vor allem durch Handwerker und Händler, die sich hier niederliessen. Diese bauten im Spätmittelalter ein Leinentextilexportgewerbe auf. Wie in zahlreichen anderen Städten schlossen sich auch die St.Galler Handwerker in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in sechs Zünften zusammen.

Die in St.Gallen und Umgebung verarbeiteten Leinentücher liessen die Stadt im Sommer weiss erscheinen: Grossflächig wurden Leinentücher zur Bleiche ausgelegt. (Frans Hogenberg, Gesamtansicht der Stadt St.Gallen, 1572, VadSlg GS f 1 A/2A)

Von der Gesellschaft zum Notenstein zur IHK St.Gallen-Appenzell

Kaufleute gründeten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sozusagen als Pendant zu diesen Handwerkerzünften die «Gesellschaft zum Notenstein». Das Gründungsdatum ist nicht überliefert; das älteste Mitgliederverzeichnis datiert auf den 15. August 1466. Die Kaufleute intensivierten in der Folge ihre Zusammenarbeit: Ab 1480 ist ein regelmässiger Post- und Kurierdienst mit Nürnberg überliefert, ab 1560 – damals wurde Frankreich zentraler Handelspartner – auch mit Lyon.

1637 gründeten die St.Galler Kaufleute mit dem Kaufmännischen Directorium eine eigentliche berufspolitische Organisation. Dieses übernahm nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Eidgenossenschaft wirtschaftspolitische Aufgaben. So führte es Verhandlungen mit auswärtigen Herrschern zur Sicherung von Zollprivilegien, unter anderem 1553 für den Handel mit Frankreich. Zudem war das Kaufmännische Directorium zuständig für die Schaffung handelsrechtlicher Grundlagen, die bis zum Erlass des schweizerischen Obligationenrechts zur Anwendung kamen.

Matrikelbuch Notenstein: Wappen der Mitglieder von 1466 (Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen, AA, Bd. 590b, S. 571, Notensteiner-Matrikel, 1637)

Andere Fabrikanten und Unternehmer gründeten parallel zum bereits bestehenden Kaufmännischen Directorium 1875 den Handels- und Industrieverein St.Gallen, dessen Ziel vor allem die Förderung des Frei- und Aussenhandels und die Einflussnahme auf die Gesetzgebung waren. Der Handels- und Industrieverein St.Gallen und das Kaufmännische Directorium fusionierten 1991 zur Industrie- und Handelskammer (IHK) St.Gallen-Appenzell, die durch ihre lange Geschichte die mit Abstand älteste Handelskammer der Schweiz und wohl auch von Europa ist.

Das Handelsgebiet der Reichsstadt St.Gallen erstreckte sich Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts über weite Teile Europas.

Die IHK und der Postdienst: eine jahrhundertelange Aufgabe

Seit knapp 240 Jahren ist die IHK an der Gallusstrasse in St.Gallen beheimatet. An der heutigen Nummer 14 wurde der Postverkehr von St.Gallen abgewickelt, für den die IHK über Jahrhunderte zuständig war. Nach der Kantonsgründung 1803 ging das Postregal an den Kanton über, der das Postwesen aber weiterhin bei der IHK beliess. Nach 1848 wurde die Post in den Aufgabenbereich der Eidgenossenschaft übertragen, die den Standort aber bis in die 1860er-Jahre an der Gallusstrasse und damit im Gebäude der IHK beliess. Als die Post auszog, wurde das Gebäude für die IHK zu gross. Sie erwarb das Nebenhaus «zum Engelskopf». Heute gehört das ehemalige «Posthaus» der Ortsbürgergemeinde und heisst «Stadthaus».

Seit den 1860er-Jahren ist die IHK resp. das Kaufmännische Directorium als deren Vorgängerorganisation im «Haus zum Engelskopf» (links im Bild) an der Gallusstrasse beheimatet. (StadtASG, PA, Steigmeier, AF128: 1905 – 1910)

Vielfältiges IHK-Engagement während der Stickereiblüte

Um das Jahr 1860 lebten gut 20’000 Menschen in St.Gallen. Gut 50 Jahre später zählte die Stadt bereits rund 75’000 Personen. Grund für dieses Wachstum war die personalintensive «Stickereiblüte». In den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg stammten mehr als 50 Prozent der Weltproduktion an Stickereien aus St.Gallen. St.Galler Kaufleute und mit ihr die Stadt wurden aber nicht nur mit Textilexporten vermögend und wirtschaftspolitisch einflussreich, sondern mindestens ebenso sehr auch durch den Import und vor allem auch den Zwischenhandel mit anderen Gütern.

Auch die IHK prägte verschiedene Facetten dieser Epoche wesentlich. So war sie massgeblich an der Errichtung einer Stickereibörse im heutigen Multertor-Gebäude beteiligt. Zudem war ihr die Ausbildung, darunter auch die Fachausbildung, stets ein wichtiges Anliegen. Sie gründete darum 1846 eine Webereischule und unterstützte die Fortbildungsschule für Handwerks- und Handelslehrlinge mit jährlichen Beiträgen. Zwei Jahrzehnte später gründete die IHK eine Schule für Musterzeichner. Das heutige Textilmuseum ging aus einer grossen Mustersammlung der IHK, die sowohl Lernenden als auch Fabrikanten und Zeichnern zur Verfügung stand, hervor.

Der Boom der mechanischen Stickerei führte dazu, dass sich internationale Exportfirmen in St.Gallen ansiedelten. Der Beitritt zum Kaufmännischen Directorium blieb ihnen verwehrt, weshalb sie den Handels- und Industrieverein gründeten. Aus der Fusion der beiden Vereinigungen ging 1991 die IHK hervor. Im Bild: Stickmaschine 1956. (StadtASG, PA Foto Gross, TA30546)

Mitbegründerin der Universität St.Gallen und des St.Galler Empa-Standorts

Im Bereich des Engagements der IHK für die Bildung muss auch die Gründung der Handelsakademie erwähnt werden, der Vorläuferin Universität St.Gallen. Auch hier war die IHK gemeinsam mit anderen Institutionen beteiligt, war sie doch der Überzeugung, dass zum Schutz der Ostschweizer Wirtschaft eine bessere Bildung der jungen Kaufleute und Industriellen zentral sei. Sie stellte der 1898 gegründeten Handelshochschule ein Gebäude im Museumsquartier zur Nutzung zur Verfügung, trug wesentliche jährliche Kosten und hatte dementsprechend Einsitz im Hochschulrat. Auch heute noch ist die Verbindung zwischen Universität und IHK eng.

Auch dass die Empa heute einen Standort in St.Gallen hat, ist der IHK zu verdanken, ging sie doch aus der 1911 von der IHK begründeten Kontroll- und Versuchsstelle für die Textilindustrie hervor.

Die Errichtung einer Handelshochschule war den Mitgliedern der Industrie- und Handelskammer ein grosses Anliegen. Diese wurde 1899 gegründet und hatte ihren Standort an der Notkerstrasse in St.Gallen. Später wurde sie umbenannt in Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (HSG). Heute trägt sie den Namen Universität St.Gallen – Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften, Internationale Beziehungen und Informatik und befindet sich mehrheitlich am Rosenberg. (Handelshochschule 1923: StadtASG PA Foto Gross, BA165)

Fokus auf Diversifizierung durch neue Industrien

Der Fokus der IHK lag stets auch, aber nicht nur auf der Textilindustrie. 1926 – der Ostschweiz sass die Textilkrise aus der Zeit des 1. Weltkrieges noch in den Knochen – war die IHK federführend bei der Gründung einer Zentralstelle für die Einführung neuer Industrien. Die IHK unterstützte von Anfang an aktiv die Verwirklichung zahlreicher Eisenbahn-Projekte. Eine erste Eisenbahnlinie von Zürich westwärts wurde 1847 erbaut. 1852 wurde die St.Gallisch-Appenzellische Eisenbahngesellschaft gegründet, die den Bau einer Linie ostwärts – Rorschach-St.Gallen-Wil(-Winterthur) – zum Ziel hatte. Für die IHK war klar, dass ein guter Anschluss an das Eisenbahnnetz für Industrie und Handel unabdingbar war. Sie zeichnete darum Aktien im Wert von CHF 250’000 (heute wären das fast CHF 4 Mio). Wenige Jahre später brachte die IHK nochmals einen Betrag in ähnlicher Grössenordnung für die Vereinigten Schweizerischen Bundesbahnen und für die Bodensee-Toggenburg-Bahn auf.

Die Förderung des Ostschweizer Eisenbahnnetzes war für die Industrie- und Handelskammer zentral: Durch gute Verbindungen konnten Handelswaren deutlich schneller befördert werden. Hier ein Bild der Belastungsprobe der Kräzern-Eisenbahnbrücke im Jahr 1925. (StadtASG, B, 1149)

Telegrafie- und Banken-Pioniere

Auch für einen anderen historischen Meilenstein setzte sich die IHK ein: für die Telegrafie. Um 1850 hatten sämtliche umliegenden Länder bis an die Schweizer Grenze Telegrafenmasten errichtet, nur in der Schweiz ging es nicht weiter. Die IHK initiierte eine Petition an den Bundesrat und finanzierte deren Umsetzung in Form eines unverzinslichen Kredits massgeblich mit. So standen bereits im Folgejahr in St.Gallen die ersten Telegrafenmasten. Die IHK unterstützte danach den Betrieb mit jährlichen Beiträgen.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert machte sich die IHK für die Gründung einer Noten- und Zettelbank stark und verfasste erste Statuten. St.Gallen erhielt 1837 – als erst zweiter Ort der Schweiz – eine Kantonalbank, die den Namen «Bank in St.Gallen» trug. Sie übernahm Aufgaben, die für die Ostschweiz bislang vor allem der Bankenplatz Augsburg wahrgenommen hatte. Die IHK beteiligte sich ferner an der Gründung der «St.Gallischen Hypothekarkasse» und förderte aktiv die «St.Gallische Creditanstalt». 1835 gründete sie eine eigene Bank, die Ersparnisanstalt des Kaufmännischen Directoriums, die bis in die 1960er-Jahre Bestand hatte.

Die IHK machte sich für die Gründung einer Noten- und Zettelbank stark. In der Folge erhielt St.Gallen mit der «Bank in St.Gallen» 1837 eine Kantonalbank – als erst zweiter Ort der Schweiz. (Kulturmuseum St.Gallen, 2014.563)

Führendes Wirtschaftsnetzwerk

Heute ist IHK St.Gallen-Appenzell das führende Wirtschaftsnetzwerk der Ostschweiz. Die IHK vernetzt, informiert und inspiriert. Sie vertritt rund 1600 zukunftsgerichtete Unternehmen aus der ganzen Region. Die IHK engagiert sich gemäss Statuten für eine wettbewerbsfähige, umweltverträgliche Marktwirtschaft, fördert den Aussenhandel, unterstützt ihre Mitglieder im Exportgeschäft und fördert die Aus- und Weiterbildung sowie den Technologietransfer.

Sein spezielles Jubiläum «555 Jahre IHK» feierte der Verband mit verschiedenen Veranstaltungen sowie mit der Kampagne «Vielfalt made in Ostschweiz», die das Wirken der IHK-Mitgliedunternehmen ins Zentrum stellt. Sämtliche Jubiläumsfeierlichkeiten wurden pandemiebedingt um ein Jahr verschoben.

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Dr. phil. Dorothee Guggenheimer, Co-Leiterin des Stadtarchivs der Ortsbürgergemeinde St.Gallen. Gemeinsam mit IHK-Direktor Markus Bänziger führte sie die Gäste am Medien-Stadtrundgang durch die 555-jährige Geschichte der IHK St.Gallen-Appenzell.

Eindrücke der Jubiläumsfeier