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«Ostschweiz muss Ausbildung eigener Fachkräfte stärken»

Interview mit Prof. Dr. Thomas Bieger, Rektor der Universität St. Gallen «Ostschweiz muss Ausbildung eigener Fachkräfte stärken»

Robert Stadler, Leiter Kommunikation / stv. Direktor IHK

Mit der Forderung nach einer IT-Bildungsoffensive hat die IHK St. Gallen-Appenzell einiges ausgelöst. Teil davon war ein Auftrag an die Universität St. Gallen, in einer Machbarkeitsstudie einen Studiengang Informatik an der HSG zu prüfen. Bald liegen die Resultate der Studie vor. Im Gespräch mit IHKfacts äussert sich HSG-Rektor ThomasBieger zur Digitalisierung, den Forderungen der IHK und dem ge­planten Ausbau der Universität.

2015 forderte die IHK St. Gallen-Appenzell am Konjunkturforum «Zukunft Ostschweiz» eine IT-Bildungsoffensive. Wie beurteilen Sie diese Forderung ein Jahr danach?

Thomas Bieger: Die Forderung der IHK nach einer IT-Bildungsoffensive in der Ostschweiz war zeit- und sachgerecht. Die Digitalisierung mit Entwicklungen wie dem Internet der Dinge oder Big Data ist kein kurzfristiges Phänomen. Grundlegende technische Entwicklungen wie die Miniaturisierung, die Bereitstellung grosser Datenkapazitäten oder massiv sinkende Preise für Sensoren werden längerfristige Wirkungen nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft haben. Um die Chancen dieser Entwicklung wahrzunehmen, braucht es entsprechende Aus- und Weiterbildungen.
Um dem Sog der grossen Zentren entgegenzuwirken, muss auch eine Region wie die Ostschweiz – wie in der Informatikoffensive des Bildungsdepartements vorgesehen – die Ausbildung eigener Fachkräfte auf allen Stufen, von der Mittelschule über die Berufsausbildung bis zu den Hochschulen, stärken. Wir sehen, dass gerade aussereuropäische Bildungsstandorte in diesen Bereichen rasch vorwärts gehen. So entstand in Südkorea – nach dem Sieg einer Maschine gegen einen Spitzenspieler im Brettspiel Go – ein richtiger Run von Schülerinnen und Schülern auf Programmierkurse.

Eine der Ideen betraf einen neuen Studiengang Informatik an der Universität St. Gallen. Die IHK stellte der HSG für die Erstellung einer Machbarkeitsstudie 200 000 Franken zur Verfügung. Was hat dieser Auftrag innerhalb der Universität bewirkt?

Auch eine Universität muss ihre Ausbildungsinhalte auf die Anforderungen der Digitalisierung ausrichten. Zu diesem Zweck bietet die HSG ab Herbst 2017 im Wahlbereich neu Programmierkurse mit einem Zertifikat an. Die Digitalisierung als gesellschaftliches Phänomen soll auch vermehrt Gegenstand von Lehrveranstaltungen im Kontextstudium sein. Ab 2018/19 plant die HSG zudem die Gründung eines «Department of Information Science» mit drei Lehrstühlen, um die nötige Methodenkompetenz in der Forschung zu sichern. Der Auftrag der IHK hat somit diesen bereits angelaufenen internen Kompetenz-aufbau beschleunigt beziehungsweise ihn nochmals geschärft.

Können Sie schon Resultate des Prüfungsauftrages verraten?

Der Projektauftrag wird vom Team um die Professoren Walter Brenner und Jan Marco Leimester mit hoher Kompetenz und unter Einbezug aller massgeblichen Kräfte der Ostschweizer Wirtschaft vorangetrieben. Wir sind selbst auf die Resultate gespannt. Die allfällige Umsetzung eines Studienganges Informatik liegt letztlich in den Händen der Politik, die dafür auch die notwendigen Mittel sprechen müsste.

Wie beurteilen Sie die Folgen und die Chancen des digitalen Wandels für die Wirtschaft, gerade in der Ostschweiz?

Der digitale Wandel führt dazu, dass alles das, was über das Netz abgewickelt werden kann, weltweit eingekauft werden kann und damit einem starken Preiswettbewerb unterliegt. Nicht nur Call-Center-Leistungen werden heute nach Ländern wie Indien ausgelagert. Datenbankrecherchen, Entwicklung von industriellen Teilen, Programmierung von Software, ja ganze Analysen werden im Zeitalter der Plattform-Ökonomie weltweit ausgeschrieben und dann am Standort des billigsten Angebotes, beispielsweise in Litauen, erbracht. Mehrwert schafft, wer diese einzelnen Teilleistungen − zum Beispiel ein Programm für Kapazitätsdisposition mit Analysen zum Verkehrsverhalten − zu einem Geschäftsmodell wie Uber verbindet. Solche kreativen Leistungen erfordern den persönlichen Austausch zwischen Menschen. Das ist das Paradoxe am Zeitalter der Digitalisierung, dass – und dies gilt auch für die Lehre – der eigentliche Mehrwert durch persönliche Begegnung und Austausch geschaffen wird. Ein Standort wie die Schweiz mit ihren hohen Fixkosten für Infrastruktur oder Sozialwesen kann nur überleben, wenn sie für solche Leistungen attraktiv ist. Und hier sind Regionen im Sog von grossen Zentren wie die Ostschweiz besonders gefordert.

Die Universität plant Erweiterungsbauten am Rosenberg neben der Bibliothek sowie am Platztor. Gleichzeitig will die Universität auf videogestütztes Selbststudium und interaktive Fallstudien setzen. Ketzerisch gefragt: Ist es denn angesichts dieser Digitalisierung überhaupt noch nötig, zusätzliche Bauten zu erstellen?

Die oben erwähnten, Mehrwert schaffenden kreativen Tätigkeiten setzen mehr voraus als reine instrumentelle Kenntnisse und benötigen eine enge Verbindung zur Forschung. Dies wird in Zukunft vermehrt nur über persönliche Begegnung zwischen Menschen, Forschenden, Lehrenden und Lernenden möglich sein. Eine Universität an einem Hochlohnstandort dient diesem nur und kann im Wettbewerb zu den weltweiten Anbietern von MOOCs (massive open online course, Anm. der Redaktion) auch nur überleben, wenn sie Mehrwert durch einen Campus-Unterricht schafft. Unser Ziel muss es deshalb sein, eine optimale Verbindung zwischen Forschen und Lernen zu schaffen.

Was erhoffen Sie sich vom zusätzlichen Platztor-Campus unten in der Stadt?

Für kollaboratives, kreatives Lernen und genügend Lernplätze für Studierende brauchen wir eine Erweiterung unserer Bibliothek auf dem Rosenberg mit einem «Learning Center», das über private Mittel von Förderern finanziert werden soll. Der Campus am Platztor wird neue Formen des forschungsnahen Lernens ermöglichen. Der neue Standort ermöglicht zudem eine neue Nähe der Universität zur Stadt und damit einen Austausch zwischen Uni und Bevölkerung.

Eine Universität wie die HSG muss international ausgerichtet sein. Besteht die Gefahr, vor lauter Internationalität die regionale Verankerung zu vergessen? Schliesslich benötigen Sie für die geplanten Ausbauschritte die Zustimmung der Bevölkerung vor Ort.

Gerade die gute Zusammenarbeit zwischen HSG und IHK im Thema Digitalisierung, die Arbeiten an der Medizinausbildung mit dem Gesundheitsdepartement, dem KSSG und der Ärzteschaft, das neu aufgelegte Praktikumsprogramm der St. Galler Gerichte, aber auch viele kulturelle und öffentliche Anlässe zeigen, dass die Universität St. Gallen ein integrierter Teil der Gesellschaft und Wirtschaft des Kantons, ja der ganzen Ostschweiz ist. Zusätzlich ist die HSG ein eigentlicher Wirtschaftsfaktor, indem sie jedes Jahr weit über 200 Millionen Franken zum regionalen Volkseinkommen beiträgt. Eine Universität kann ihre Funktion für ihre Region nur erfüllen, wenn sie an die internationalen Wissensströme angedockt ist. Insofern besteht eine Symbiose zwischen regionaler Verankerung und internationaler Ausstrahlung.

Nebst der Informatik soll auch noch die Medizin dazukommen: In einer Kooperation mit der Universität Zürich und dem Kantonsspital St. Gallen sollen ab 2020 Medizinstudenten ihren Master in St. Gallen absolvieren. Stellt dies nicht eine Verzettelung der klaren Ausrichtung als Wirtschafts- und Rechtsuniversität dar?

Mit dem geplanten Medical Master soll der Anteil der in der Schweiz ausgebildeten Ärzte in der Region erhöht werden. Er wird als Joint Master in Kooperation mit der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit dem KSSG angeboten. Die HSG bietet über eine «Medical School» in Form eines Institutes die Basis für dieses Programm und Fächer mit Bezug zu ihren bestehenden Kompetenzen, von Gesundheitsmanagement bis hin zu Ethik. Für die HSG ist es eine Chance, die Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital und der Universität Zürich auszubauen und einen Anschluss an auch in Zukunft äusserst relevante Themen wie Gesundheit und Medizin zu bekommen. Gerade hier bieten sich wichtige Synergien mit dem Thema Digitalisierung wie zum Beispiel im Bereich der Personalized Medicine.